Auch ein Roman über Bäume
Zum 90. Geburtstag von Uwe Johnson: Mutmaßungen über sein Erstlingswerk „Ingrid Babendererde“
Von Karl-Josef Müller
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseNächste Woche kommen die Kastanien: sagte Jürgen. Und vor der Klassentür waren sie einig, dass der Rotdorn am Tag nach übermorgen blühen werde. Was glaubt ihr wohl, wie das aussieht.
„Niemand kann zwei Herren dienen; er wird entweder den einen hassen und den andern lieben oder er wird zu dem einen halten und den andern verachten.“ So zu lesen im Evangelium nach Matthäus, Kapitel 6, Vers 24. In Uwe Johnsons Roman Ingrid Babendererde, posthum 1985 im Suhrkamp Verlag erschienen, ein Jahr nach dem frühen Tod des Dichters mit fünfzig Jahren, ist es die SED, die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands, die solches fordert, und zwar von einer Schülerin, die den Bibelspruch wohl kennen dürfte. Allerdings ist nicht auszuschließen, dass sie, was ihr Verhältnis zu dem am 7. Oktober 1949 gegründeten Staat der Deutschen Demokratischen Republik anbelangt, an eine andere Stelle aus dem Matthäus-Evangelium gedacht haben könnte: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist.“
Die Schülerin heißt Elisabeth Rehfelde und ist gleichzeitig Mitglied der Jungen Gemeinde, also der Jugendgruppe einer evangelischen Kirchengemeinde in der DDR, und der FDJ, der Freien Deutschen Jugend, mithin der maßgeblichen Jugendorganisation des sich demokratisch nennenden Staates DDR.
Mit den bald blühenden Kastanien, wie auch dem Rotdorn, hat das nichts zu tun; und doch wächst all den grünen, blühenden und das Auge im Mai 1953 erfreuenden Bäumen, Hecken und Büschen in Johnsons Roman eine erhebliche Bedeutung zu. Auch sind sie mit verantwortlich zu machen dafür, dass dieser Roman, nach mehreren Absagen bei DDR-Verlagen, auch im westdeutschen Suhrkamp Verlag nicht erscheinen konnte.
Maßgeblich verantwortlich für die Ablehnung des Manuskripts im Jahr 1957 war nicht der Verleger Peter Suhrkamp, sondern sein Lektor und späterer Nachfolger Siegfried Unseld, so nachzulesen in Johnsons Frankfurter Vorlesungen mit dem Titel Begleitumstände:
Als Peter Suhrkamp am 11. Juli 1957 von Frankfurt am Main abfliegen wollte nach Westberlin, riet sein Mitarbeiter Siegfried Unseld ihm dringend ab, (…) den Roman „Ingrid Babendererde“ anzunehmen. Er selbst war ein Opfer der Ideologie von Blut und Boden gewesen; ihn störte an der Erzählung, dass die Leute darin so gern, so oft, so ausdauernd segelten. – Godewind: sagten die in einem Boot, wenn es einem anderen begegnete; – Wohl wohl: sagten die in einer ungemein norddeutschen Art zu dem von ihnen, der das Steuer und das Agen hatte; Bäume standen da so reichlich – Siegfried Unseld wünschte, das würde kein Buch in Peter Suhrkamps Verlag.
Bernd Neumann bekräftigt diese Einschätzung Unselds in seiner umfangreichen Biografie über Johnson. Erschienen ist diese neunhundert Seiten umfassende Gesamtschau 1994, naturgemäß konnte Uwe Johnson zu den gegen seinen Erstling erhobenen Vorwürfe nicht mehr Stellung beziehen, was er zu Lebzeiten sicherlich getan hätte. Nachdem Neumann dem Roman zunächst „relative Vormodernität“ bescheinigt, konstatiert er, dieser weise unverkennbar
Züge auf, die in der Art ihrer Ästhetisierung von geschichtlich und politisch geprägter Landschaft, in der Art ihrer Visualisierung und Symbolisierung historischer Kräfte sowie vor allem in der zentralen Art der Thematisierung von ‚Heimat‘ nolens volens noch subtile Reflexe völkischer Literatur erkennen lassen.
Das Individuum Uwe Johnson kann sich, so die These Neumanns, dem Einfluss der NS-Ideologie nicht entziehen, war Johnson doch „Schüler der ‚Heimschule‘ gewesen.“ Gemeint ist, so Neumann, „ein Internat mit dem strengen Ziel nationalsozialistischer Eliteerziehung.“
Diese unterstellten und nicht nachgewiesenen, sondern lediglich behaupteten Einflüsse sind derart subtil, dass sie selbst mit der philologischen Lupe nicht zu erkennen sind. Und was überhaupt ist unter einer politisch geprägten Landschaft zu verstehen? Es war Brecht, der das Gespräch über Bäume in Verruf gebracht hatte in seinem Gedicht An die Nachgeborenen, dies jedoch nicht, weil ein solches von der Blut und Boden-Ideologie geprägt sei:
Was sind das für Zeiten, wo
Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist
Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!
Günter Eich schließlich bestreitet in seinem Zwischenbescheid für bedauernswerte Bäume, Brecht korrigierend, den Bäumen jegliche politisch-historische Bedeutung:
Akazien sind ohne Zeitbezug.
Akazien sind soziologisch unerheblich.
Akazien sind keine Akazien.
Es folgt bei Neumann das vernichtende Urteil, ganz im Sinne Unselds: „Nicht ohne Grund sollte die Babendererde im Suhrkamp Verlag und beim Lektor Siegfried Unseld den Eindruck eines Nachhalls von ‚Blut und Boden‘ hervorrufen und deshalb abgelehnt werden.“
In seinem Essay Überleben im Schatten der Gnade. „Fluchtburg“ – eine filmische Erinnerung an den Schriftsteller Gerhart Pohl wirft Jan Brachmann einen Blick auf dessen Landschaftsbeschreibungen. Nachdem Brachmann in einem längeren Zitat Pohls innige Liebe zur Landschaft Südschlesiens hat aufscheinen lassen, kommt er zu folgendem Schluss:
Wo haben die Deutschen, indem sie anderen Schlimmes antaten, Schaden an sich selbst genommen? Wo haben sie Verwundung erfahren an dem, was ihnen heilig war? Denn genau aus diesem romantischen Heimaterleben, das im Nationalsozialismus zu einer völkischen Blut-und-Boden-Ideologie pervertierte, bezog Pohl seine Kraft des Ausharrens im Widerstand.
Zum Gedächtnis Eichendorffs möchte Theodor W. Adorno 1957 einen Beitrag leisten, und er beginnt seine Überlegungen mit einer Unterstellung, die der von Unseld und Neumann gegenüber Johnsons Erstling verwandt scheint: „Die Beziehung zur geistigen Vergangenheit in der falsch auferstandenen Kultur ist vergiftet.“ Wenige Zeilen später heißt es:
Allergie gegen das falsche Glück der Geborgenheit bemächtigt eifernd sich auch des Traumes vom wahren, und die gesteigerte Empfindlichkeit gegen Sentimentalität zieht sich auf den abstrakten Punkt des bloßen Jetzt zusammen, vor dem das Einst so viel gilt, als wäre es nie gewesen.
Was hat es auf sich mit dem falschen Glück der Geborgenheit einerseits und andererseits dem Traum vom wahren Glück, beides bezogen auf Ingrid Babendererde und die dort beschworene Schönheit der blühenden Bäume, des sich kräuselnden Wassers, bezogen auf die ausführlich geschilderten Segelpartien und auch auf die Passagen in plattdeutscher Sprache, von denen Siegfried Unseld im Nachwort zum Roman berichtet, er habe damit „nichts anfangen“ können? Wenn all dies, mit dem Unseld 1957 haderte, dem Verdacht des falschen Glückes im Sinne „einer völkischen Blut-und-Boden-Ideologie“ anheimfällt, wo verbirgt sich im Roman der „Traum vom wahren Glück“, wenn von einem solchen überhaupt berichtet wird?
Die Squit, das Segelboot von Klaus Niebuhr und seinem jüngeren Bruder Günter, ist die einzige Hinterlassenschaft der Eltern. Mehrfach ist im Roman von diesen die Rede. Sie gehörten zur „Gruppe Niebuhr“ und waren als solche „am 4. August 1944 gestorben, ja, beide an Herzschlag.“ Doch das ist nicht die ganze Wahrheit: „Ihre Eltern waren von der vorigen Regierung wegen Widerstandes mit Gas vergiftet worden; seit dem waren sie in der Schleuse bei ihrem Onkel Martin Niebuhr. Das war der Bruder ihres Vaters.“ Bezeichnet wird diese Hinrichtung auch als „Gasvergiftung von Amts wegen“, eine Formulierung, über die länger nachzudenken sich lohnen würde.
Was es mit dem unterstellten falschen Glück eigentlich auf sich hat, wird deutlich an einer banalen Episode. Jürgen und Klaus rudern, während Ingrid „die großen Wolkenhaufen am Himmel“ begutachtet. Dann beobachtet Jürgen, der eine führende Position in der FDJ einnimmt, ein Gespräch zwischen Ingrid und einem Angler, der in seinem Boot „geduldig und eingetrocknet“ in der Sonne sitzt. Es entwickelt sich ein banaler Schnack im norddeutschen Dialekt, beginnend mit dem obligatorischen „Petri Heil“. Der Fisch beißt nicht, bemerkt der Angler, weil es zu heiß ist. Sollte doch ein Hecht anbeißen, so wolle sie den haben, erwidert Ingrid. Eine belanglose Unterhaltung, und dennoch eine Niederlage für Jürgen, den FDJ-Funktionär:
Ingrid kannte den Alten doch gar nicht, weder ihn, noch sein Boot, sie redete so freundlich und anteilnehmend mit ihm…siehe: das war etwas was er, Jürgen, eben nicht zustande bringen würde bei allem guten Willen: so unbefangen heiter zu sein und Vertrauens voll von vornherein; siehe: Ingrid hatte die Verbindung zu den Massen, und er hatte sie nicht.
Etwa einhundert Seiten später ist erneut von dieser Verbindung die Rede: „Und Peter Beetz haben sie erst gar nicht die Treppe hochgelassen, der wusste von gar nichts, dem fehlt die Verbindung mit den Massen (…).“
Selbstredend ist es lächerlich, den so banalen wie freundlichen Wortwechsel zwischen Ingrid und dem Angler als Ausweis für ihre Verbindung zu den Massen zu deuten. Es treffen aufeinander: ein Wortwechsel zwischen Menschen, die ohne irgendwelche Hintergedanken miteinander ins Gespräch kommen einerseits, und ein Funktionär des Staates DDR, der unfähig ist, sich von den Sprachhülsen dieser sich demokratisch nennenden Republik zu befreien. Jürgen erkennt sein Defizit, ohne es mit eigenen Worten benennen zu können. Als er nicht sofort bereit ist, Ingrid und Klaus als gefährliche Feinde des sozialistischen Staates zu brandmarken und ihrer Entfernung von der Schule zuzustimmen, um sich damit zweifelsfrei der Linie der Partei und der FDJ anzuschließen, hat er den Bogen überspannt:
Die Partei werde Jürgen eine Rüge erteilen. Wegen parteischädigenden Verhaltens. Und den Bewährungsauftrag: nächstens in der 12 A durch eingehende Diskussion die Überzeugung herzustellen. Dass Gestalten wie Babendererde, und Niebuhr. Schandflecke seien für eine demokratische Oberschule. Die Partei gebe ihm den Rat. DichvonsolchenElementen konsequentzuisolieren!
Man möchte Kafka zitieren: „Die Lüge wird zur Weltordnung gemacht“, und zwar mittels einer Sprache, die ausschließlich aus vorgestanzten Worthülsen besteht, von denen abzuweichen in der Absicht, eine eigene Meinung zu äußern, bei Strafe verboten ist, und gemeint sind durchaus lange Haftstrafen.
Denn, um Louis Fürnberg zu zitieren: „Die Partei, die Partei, die hat immer recht.“
Dieser vorgegebenen, lügenhaften, hölzernen Parteisprache, die es, indem man sich ihrer bedingungslos bedient, zu grüßen gilt wie einst Schillers Gesslerhut, dieser Sprache setzt Uwe Johnson eine eigene Sprache entgegen, um so eine wahrhaftige Wahrnehmung und Darstellung menschlichen Zusammenlebens zu gewährleisten. All die Bäume, die Wolken und Wellen zeugen von einer Wirklichkeit jenseits der verordneten kleinbürgerlich-verquasten Sprachwelt der Partei und bieten dieser den Widerstand ihrer bloßen Existenz.
Zum Trost der Natur gesellt sich der der Kunst. Unmittelbar nachdem Jürgen seine Rüge unter absurden Drohungen hat hinnehmen müssen – „Und – ich – sage – dir (sagte Pius): wenn hinter euch. Etwas steckt –. Sowerdenwireschonfinden!!“ – wechselt Johnson den Schauplatz. Ingrid und ihre Mutter lauschen im Liegestuhl einem Konzert:
(…) und der Rundfunk von Hamburg spielte ein Brandenburgisches Konzert, (…) das war ein Grosses Konzert, und es war sehr lange her. (…) Das war eine sehr sonderbare Musik, die war so inständig zuversichtlich. Es war für Ingrid als habe diese Musik etwa durchaus Gewisses vor, als gehe sie geduldig immer wieder herum um diesen bestimmten Vorsatz von Heiterkeit, unablässig wissend von der Sicherheit der Ankunft und aufgehoben in lauter Wohlmeinen.
In seinen Überlegungen zu Eichendorff bestreitet Adorno, wenn wir ihn recht verstehen, dass „zu ideologischen Zwecken zurechtgestutzte Kulturgüter“ aus unserem Gedächtnis gelöscht werden müssen und fordert vielmehr „auch die Freiheit, Vergangenes zu lieben.“ Denn dieses Vergangene trägt so wenig Schuld an seinem Missbrauch wie der Zauber der Natur, und unseres Angerührtseins durch beide, Natur wie Kunst, müssen wir uns nicht schämen, auch wenn beide sich nicht gegen ihren ideologischen Missbrauch wehren können.
Es ist somit ein Jammer und unentschuldbar, dass Peter Suhrkamp sich von seinem Lektor Siegfried Unseld hat überreden lassen, diese Ingrid Babendererde der Leserschaft in West- und Ostdeutschland vorenthalten zu haben. Wir gehen so weit zu behaupten, dass dieser sicherlich mit mancherlei Schwächen behaftete Roman eines kaum mehr als zwanzigjährigen Autors im Jahr 1957 eine enorme Wirkung hätte entfalten können. Deutlicher noch als in den so hoch gelobten Mutmaßungen über Jakob wird in Johnsons so lange verschmähtem Erstling sichtbar, welche Beschädigungen ein Staatswesen hinterlässt, und das meinen wir durchaus bis in die unmittelbare Gegenwart hinein, das nicht dazu in der Lage ist, mit den Menschen wohlmeinend und glaubhaft ins Gespräch zu kommen.
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