Pazifismus

Die „Verteidigung“ des Pazifismus durch den Philosophen Olaf Müller bietet keine überraschenden Einsichten

Von Jens FlemmingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Flemming

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wofür Pazifistinnen und Pazifisten streiten, dürfte ohne Weiteres klar sein. Sie lehnen Krieg und Kriegsdienst ab. Dafür bringen sie moralische und religiöse, auch politische Motive in Anschlag. Konflikte zwischen Staaten glauben sie mit gewaltfreien Methoden lösen zu können. Ihre Vision ist eine Völkergemeinschaft, deren Zusammenleben sich in Frieden und Freiheit vollzieht. Maßgeblich sind verbindliche Rechtsnormen und Entscheidungen internationaler Schiedsgerichte. Das sind Gebote der Vernunft für sie, die sich an den Idealen der Aufklärung orientieren. Die Argumente des Pazifismus sind bestimmt von rationalen Überzeugungen und davon durchtränkten Appellen an Menschen und Regierungen. Um ihren Ideen die nötige Resonanz zu verschaffen, bedienen sie sich der Medien, soweit sie ihnen zur Verfügung stehen, organisieren sich in Vereinen und Verbänden, veranstalten Vorträge, organisieren Kundgebungen und Protest. Schaut man in die Vergangenheit, wird deutlich, dass die Friedensbewegung weniger Erfolgs-, denn Misserfolgsgeschichte war. Kriege jedenfalls hat sie bis auf den heutigen Tag nicht verhindern können. Denn die gründen nicht in Theorien und theoretischen Erwägungen, sondern in machtpolitischem Kalkül und handfesten Interessen, die zu legitimieren nicht selten die Historie bemüht wird. Dabei spielen weder Wahrheit noch Redlichkeit noch Plausibilität eine Rolle.

Die Friedensbewegung hat nie eine Mehrheit erreicht. Das Volk, konstatierte im Herbst 1924 Carl von Ossietzky, „blieb immer beiseite.“ Aus den Milieus, in denen Pazifisten zu Hause sind, erwachsen keine geschlossenen und keine dauerhaften Formationen. Die Räume, in denen sie sich bewegen, sind an den Rändern offen, die Vorstellungen, denen sie anhängen, sind komplex und entbehren der Einheitlichkeit. Wie andere Phänomene auch unterliegt der Pazifismus dem Wandel. Seine Verfechter müssen sich einstellen auf die Wechselfälle der Geschichte. Auf Kriege müssen sie reagieren und prüfen, ob ihre leitenden Überzeugungen noch angemessen sind. Jeder mit Waffen ausgetragene Konflikt stellt sie vor die Frage, wie man diesen beurteilen soll und was zu tun ist, um das Blutvergießen zu beenden.

Einen Eindruck dieses Problemfeldes bietet das Büchlein von Olaf Müller. Es versteht sich als Verteidigungsschrift. Die Pazifisten, konstatiert der Autor, würden seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine „in zunehmend höhnischem Ton kritisiert.“ Notwendig sei, auf die vorgebrachten Einwände zu reagieren, und zwar nicht mit hergebrachten Stereotypen, wohl aber mit Argumenten, die den Pazifismus nicht aufweichen, sondern realitätstüchtig machen. Gegen Soldaten habe er nichts, bekennt Müller im Vorwort. Denn er selbst habe nach dem Abitur gedient. „Moralische Allergie gegen Schusswaffen“ habe ihn nicht beschwert. Als störend empfand er jedoch die Uniform und die damit einhergehende, wohl auch beabsichtigte Entpersonalisierung. Nach der Entlassung hätten sich die Zweifel an der „Richtigkeit militärischer Tätigkeit“ verstärkt. Er habe daher im Nachhinein den Dienst verweigert. Dies begründete er mit einem „verantwortungsethischen Plädoyer für die Abschaffung der Bundeswehr“. Seither begreife er sich „als Parteigänger des Pazifismus.“ Aber: „Gewalt als Mittel zum Kampf gegen das Böse“ lehne er nicht ausdrücklich ab, die „Idee eines Tyrannenmordes“ schließe er nicht aus.

Bereits hier deuten sich argumentative Problemlagen an. Sympathisch berührt, dass sich Müller für einen „pragmatischen Pazifismus“ ausspricht. Ihm ist daran gelegen, einen „Mittelweg zwischen der moralischen Arroganz von Gesinnungsethikern und der erkenntnistheoretischen Arroganz ihrer verantwortungsethischen Gegenspieler“ einzuschlagen. Allein, wo genau liegen die Grenzen? Wo beginnt die eine Position und wo hört die andere auf? Das ist im Einzelnen schwer zu bestimmen. Immerhin, für einen „gesinnungsethischen Total-Pazifismus“ plädiert der Autor nicht, der Verantwortungsethik jedoch sollen sich pragmatische Pazifisten „nicht uneingeschränkt“ unterwerfen. Auf den ersten Blick mutet dies wie die Quadratur des Kreises an. Sicher freilich ist, dass jeder mit Waffen ausgetragene Konflikt einen spezifischen Zugriff erfordert, gründlich untersucht und in die eigene Sicht der Welt eingefügt werden muss. Das verlangt intensive Arbeit und dürfte nicht ohne Reibungen abgehen. Ob und wie programmatisch eingemauerte Friedensfreunde mit dergleichen Postulaten zurechtkommen, bleibt einstweilen offen.

Unstrittig ist, den Krieg der Alliierten gegen das nationalsozialistische Deutschland zu akzeptieren. Dessen Expansions- und Vernichtungspolitik zu stoppen, war politisch wie moralisch geboten. Dies allerdings schließt den Bombenkrieg gegen Industrieanlagen und Städte nicht automatisch ein. Dass Urteile über Kampfhandlungen mit Normbezügen und Werthaltungen verknüpft sind, wird niemanden überraschen. Hier sprudelt ein Quell für endlose Querelen. Herauszufinden, was geschehen ist, gehört zu den „objektiven“ Fragen. Die aber wesentlich mit „Film- und Audiodokumentationen“ beantworten zu wollen, mutet naiv an. Wer politisches Handeln und kriegerische Prozesse mitsamt den darin verborgenen Motivationen erkennen möchte, darf den Weg in die Archive und Bibliotheken nicht scheuen, muss die verfügbaren schriftlichen Quellen aufsuchen und verarbeiten. Ohne solche Anstrengungen lässt sich die Aufgabe, der Wahrheit habhaft zu werden, nicht bewältigen. Mit Räsonnement über Wenn-dann-Sätze kommt man nicht zu differenzierten Ergebnissen und schon gar nicht zu moralisch triftigen Schlussfolgerungen.

Dieses Verfahren gewinnt auch mit Bemerkungen über den Kosovo Krieg nicht an Überzeugungskraft. Dass Friedensarbeit bereits vor Ausbruch der Feindseligkeiten hätte betrieben werden sollen, ist ein Obersatz, der wenig Widerspruch erfahren dürfte. Zu erläutern, wie dies hätte bewerkstelligt und wie die Antagonismen der beteiligten Ethnien hätten ausgeglichen werden können, bleibt der Autor schuldig. Insofern hängen seine Betrachtungen für denjenigen, der nach Orientierung für das Geschehen in den Arenen der Politik sucht, in der Luft. Gewiss, nach „friedlichen und erfolgverheißenden“ Alternativen zu suchen, ist eine mühselige Angelegenheit. Und vermutlich ist dies nicht mit der nötigen Energie und Konsequenz ins Werk gesetzt worden. Der Pazifist, der danach fahndet, müsse sich, schreibt Müller, „auf einen besonders engen Kontakt mit der Wirklichkeit einlassen“. Das mag so sein, aber die in diesem Kapitel niedergelegten Sätze spiegeln das Bedürfnis, etwas zu sagen, ohne über allgemeines, für die Erkenntnis der damaligen Ereignisse nicht förderliches Gerede hinauszugelangen.

Für ein Büchlein, dass eine Verteidigung des Pazifismus in Aussicht stellt, ist es unvermeidlich, zum aktuellen Konflikt, der die Welt in Atem hält, zum Großkrieg gegen die Ukraine Stellung zu beziehen. Er sei unsicher, bekennt der Autor, und er frage sich, ob er seinen Pazifismus „angesichts dieses massenmörderischen Angriffskriegs allen Ernstes aufrechterhalten“ könne. Die Argumente, die er beibringt, sind bekannt und schon mehrfach geäußert worden. Als der Krieg „ausbrach“ (und offenbar nicht entfesselt wurde), habe sich seine „Angst vor einem Krieg in Europa in die Angst vor einem Atomkrieg in Europa“ verwandelt. Der Impuls, den ukrainischen Opfern zu helfen, die Kriegsflüchtlinge „mit offenen Armen“ zu empfangen, relativiert dieses Grundgefühl nicht. Ebenso wenig das Plädoyer für ein Maximum an Sanktionen gegen Russland. Das sei das „Mindeste an Solidarität“, die man den Angegriffenen schuldig sei. „Massive Waffenlieferungen“ jedoch findet Müller „bei weitem zu gefährlich.“

An diesem Punkt lebt die Angst wieder auf, dass ganz Europa „in Flammen“ aufgehen könnte: eine Angst von apokalyptischem Ausmaß. An derartige Bilder fügt sich ein ausgesprochen konventionelles Resümee an. Denn im Ergebnis entscheidet sich der Autor dafür, keine Waffen an die Ukraine zu liefern. Das sei „bitter“, notiert er. Schließlich sei die daraus resultierende Konsequenz, „die Ukraine militärisch im Stich zu lassen.“  Ihm sei bewusst, bekennt Olaf Müller, dass er sich „mit alledem schuldig mache“, schuldig an den Menschen in der Ukraine. Dies ist ein sich selbst bemitleidender Schluss. Er klingt schwer, tatsächlich wiegt er leicht, wenn man bedenkt, dass er aus weiter Ferne kommt, dahinformuliert in der Sicherheit eines Berliner Professorenschreibtisches. Schön wäre, wenn ein zweites Büchlein die Problematik noch einmal aufgreifen würde, dabei mit Intensität die bekannten Fakten, vor allem aber die moralischen Abgründe in der Gesellschaft, die Sackgassen, intellektuellen Blockaden und Dilemmata beleuchtend. Erst dann ließe sich ernsthaft weiter diskutieren. Aber das wäre keine Debatte mehr, die hauptsächlich um den Pazifismus kreisen könnte.

Titelbild

Olaf L. Müller: Pazifismus. Eine Verteidigung.
Philipp Reclam jun. Verlag, Ditzingen 2022.
116 Seiten , 6,00 EUR.
ISBN-13: 9783150143544

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