Schreibend dem Tod begegnen

Adolf Muschgs Roman „Aberleben“ ist ein aberwitziges Spiel mit Identitäten, Fiktion und Realität, Leben und Tod

Von Günter RinkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Rinke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist bewundernswert, wie sich der Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg (Jahrgang 1934) seine literarische Produktivität bis ins hohe Alter bewahrt hat. Wieder ist ein umfangreicher Roman erschienen, der Themen und Figuren früherer Werke aufgreift und dabei sogar Totgeglaubte, den Gerichtsreporter Emil Gygax alias Sutter und seine Frau Ruth, auferstehen lässt. Der Roman zeugt von einer geradezu einschüchternden Gelehrsamkeit, gibt aber deswegen auch eine Fülle von Anregungen zum Weiterdenken, Weiterforschen, Weiterlesen.

Worum geht es? Schon diese einfache Frage ist keineswegs einfach zu beantworten. Der an Prostatakrebs erkrankte Schweizer Schriftsteller A. hat sich von seiner Frau Henny getrennt und ist nach Berlin gefahren, um dort einen Roman zu schreiben, der den Titel Sutters Ende tragen soll. Das neue Buch wird die Fortsetzung von Sutters Glück sein, also eines Romans, den der reale Autor Adolf Muschg im Jahr 2001 veröffentlichte und als dessen Leser und Bewunderer sich einige Figuren in Aberleben bekennen. An dieser Konstellation zeigt sich bereits ein Konstruktionsprinzip des neuen Romans: das Spiel mit Fiktionalität, das sich auf Figuren, Schauplätze und Ereignisse erstreckt. So tritt Ruth, die Frau des Gerichtsreporters Sutter, die sich im Vorgängerroman nach einer Krebsdiagnose zum Freitod entschlossen hatte und, mit Steinen beschwert, in einen See gegangen war, hier bei einer Theateraufführung im marokkanischen Essaouira als ‚reale‘ Figur wieder auf.

Von den drei Hauptschauplätzen des Romans, Berlin, Bebenroda und Essaouira findet man nur zwei auf einer Landkarte. Bebenroda in Sachsen-Anhalt und die dort befindliche Mühle Aberleben, die als „verwunschene[r] Ort“ bezeichnet wird, sind fiktiv. Aberleben ist das neuralgische Zentrum aller Figurenbeziehungen. Der Gründer und Kopf der Landkommune, die einst dort gelebt hat, war der sagenhafte Tevet, der die Mühle, noch zu DDR-Zeiten, restaurierte. Schriftsteller A., mit vollem Namen Peter Albisser – Muschg-Leser/innen dürften sich fragen, ob er identisch ist mit der gleichnamigen Hauptfigur des frühen Romans Albissers Grund (1974), in dem Peter Albisser noch Lehrer war – erhält eine Einladung, in Bebenroda eine Weihnachtspredigt zu halten. Er nimmt die Einladung an und schreibt diese Predigt, die als Text im Text zu lesen ist und sich als Spiegelgeschichte zur Predigt eines Vorgängers und Doppelgängers herausstellt.

Dieser Vorgänger, Cabalzar genannt, war auch der Vormieter der Berliner Wohnung, in die A. einzieht, nachdem er seine vorläufige Unterkunft, das Gästezimmer der Akademie der Künste, verlassen hat. Muschg verarbeitet im ersten Teil des Romans Erfahrungen, die er als Mitglied und – 2003 bis 2005 – Präsident der Akademie der Künste gemacht hat. Bei der Schilderung einer Akademiesitzung nimmt der Roman satirische Züge an. Insbesondere die ausschweifende Rede des Prager Wahlamerikaners Nep (oder Nepomuk) Frats, der ein Demise of Death Project verfolgt, ist amüsant und wegen der vielen darin enthaltenen Anspielungen verwirrend. 

Amüsement, Verwirrung und oft bloßes Staunen sind die Empfindungen, die durch die Lektüre von Aberleben ausgelöst werden. Zu bewundern ist vor allem, dass es dem Autor gelingt, diese Wirkung durch das dialektische Wechselspiel von Form und Inhalt zu erzeugen. Im Kern lässt sich der Status der Figuren, das heißt vor allem: ihre fragwürdige Identität, auf die Komödie Amphitryon beziehen, die von einer überwiegend aus Frauen bestehenden Theatergruppe zu Ehren von Tevet, der seinen 77. und zugleich letzten Geburtstag feiert, in Essaouira aufgeführt wird. Auch A. begibt sich nach einem Aufenthalt in Bebenroda an diesen Ort an der marokkanischen Atlantikküste, wobei er im Flugzeug eine Anthologie der verschiedenen Amphitryon-Fassungen von Plautus über Kleist und Georg Kaiser bis Jean Giraudoux liest. Wie sicher ist die Liebe, wenn ein Gott sich einmischt? Welches Schicksal hat ein Wesen, Herakles, zu erwarten, das von einem Gott mit einer Sterblichen gezeugt wird? Und vermag das innere Gefühl, ein Lebensthema des Heinrich von Kleist, zwischen dem geliebten Gatten und dem perfekten Täuscher Jupiter zu unterscheiden? Das Verwirrspiel mit ernstem Hintergrund wiederholt sich komödienhaft auf der Ebene der Diener Sosias und Merkur.

Die intertextuellen Beziehungen zu diesem mythischen Stoff machen im vorletzten Teil des Romans alle Namenwechsel und unsicheren Identitäten der zahlreichen Figuren plausibel. Es stellt sich nun heraus, dass A. unwissentlich Vater einer Tochter und nun auch Großvater einer Enkelin ist. Einst bei einer Lesung in Rudolstadt war er einer Verehrerin sehr nahe gekommen und dann wieder verschwunden. Der Versuchung, der Mutter und ihrer kleinen Tochter nach Amerika zu folgen und dort in einer Kleinfamilie zu leben, widersteht er. Am Ende des 6. Buchs verschwindet er spurlos aus dem Roman. Im „Abspann“ wird der Roman dann sehr aktuell. Bei den Exequien für Tevet, dessen Lebenswerk, die Mühle Aberleben, inzwischen durch Brand zerstört wurde, wird die Nachricht verbreitet, dass Nep Frats‘ Demise of Death Project eine unerwartete Wendung genommen hat: Der aus einem Gedicht übersetzte Impfstoff heilt Krebspatienten, führt aber bei den Probanden zu einer schweren Lungenentzündung. „Die Obduktion ergab, daß der Impfstoff selbst zu einem neuen Virus mutiert hatte, so viral, daß man sich den alten Krebs fast zurückwünschen mußte.“

So hält auf den letzten Seiten das Corona-Virus Einzug in den Roman, dessen Entstehung hier natürlich nicht verschwörungstheoretisch erklärt werden soll. Gezeigt wird, dass sich der Tod nicht so einfach ausschalten lässt, wie Nep Frats sich das gedacht hat. Diese Einsicht wird verbunden mit einer Prise Zivilisationskritik, die einer Figur in den Mund gelegt wird:

Ich sage: Quittung des Planeten für fortgesetzten Mißbrauch! Wir müssen weg von dieser Erde, damit sie aufatmen kann – wir haben uns dieses Ende selbst besorgt, und das ist noch das Ehrlichste daran!

Als Rettung vor den Übeln, die die Menschheit zu verantworten hat, kommen vor allem in Betracht: die Religion, wohl weniger die der Mormonen, von denen im Roman des Öfteren die Rede ist, als vielmehr der Shintoismus, der als „way of life, die festlich-aufmerksame Form zu sein“ charakterisiert und mit der Beatles-Textzeile Let it be in Verbindung gebracht wird. In diesen Reflexionen und in der Zelebrierung des japanischen Bades in A.s Berliner Wohnung, zusammen mit der später als seine Tochter identifizierten Mado, zeigt sich wieder Muschgs enge Verbindung zu Japan und seiner Kultur, die bereits in seinem ersten Roman Im Sommer des Hasen (1965) sichtbar wurde.

Das zweite Heilmittel ist die Poesie, wenn man sie nicht instrumentalisiert, sondern zu ihrem eigenen Recht kommen lässt. Die Figuren tragen einander Gedichte vor, die ausgiebig zitiert werden. Das Spektrum reicht vom Minnesänger Heinrich von Morungen über den Romantiker Joseph von Eichendorff (Der Umkehrende), den eigenwilligen Robert Louis Stevenson (Windy Nights) bis zu moderner Poesie von Paul Valéry (Cimetière marin) und Hugo Ball (Der gefallene Cherub). Lesende, die es gern genau wissen wollen, aber nicht gleich alle Zitate identifizieren können, haben zum Glück das Internet zur Verfügung, das ihnen das Geheimnis der Herkunft von Zitaten enthüllt. Gleiches gilt für die Liedtexte, seien sie aus dem evangelischen Kirchengesangbuch (Morgenglanz der Ewigkeit), der Pop- und Protestkultur (We Shall Overcome) oder der lateinamerikanischen Tanztradition wie der Klassiker Solamente una vez (y nada más) des Mexikaners Agustín Lara. Zu den Klängen dieses Boleros tanzt Albisser, der sich in Sutter verwandelt, mit Ruth, während der eigentlich verstorbene Tevet wieder jung wird und auf einem Stein sitzend Gitarre spielt. 

Ob das Experiment, die Phantasie gegen den Tod zu mobilisieren, sowohl gegen den eigenen als auch gegen den der erfundenen Figuren Sutter und Ruth, gelungen ist, bleibt am Ende offen. Vom geplanten Roman Sutters Ende bekommt man nur zwei Fragmente (in anderer Drucktype als der übrige Text) zu lesen. Oder ist Aberleben der geplante Roman? Im zweiten Fragment erfährt man, dass auch Sutter, wie sein Autor A., Prostatakrebs hat, den er nicht behandeln lassen will. 

Dennoch ist es alles andere als ein trostloses Buch – im Gegenteil, der Grundton ist heiter und humorvoll, wörtlich genommen ist der titelgebende Ortsname Aberleben auch als Mutmacher zu verstehen. Spielerisch überschreitet Muschg die Grenzen des empirisch Möglichen, schreibt aber keine Fantasy-Literatur, sondern bewegt sich eher im Rahmen eines Konzepts der erweiterten Realität. Eine lohnende Lektüre, ein Buch für fortgeschrittene Leserinnen und Leser.

Titelbild

Adolf Muschg: Aberleben. Roman.
Verlag C.H.Beck, München 2021.
368 Seiten , 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783406755378

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