Japans letzte Hoffnung

Ryû Murakamis dystopischer Nahzukunftsroman „In Liebe, dein Vaterland“

Von Damian David JungmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Damian David Jungmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kaum ein anderer japanischer Autor versteht es so gut, die Abgründe der Gegenwartsgesellschaft seines Landes so pointiert in den Blick zu rücken wie Ryû Murakami (*1952). Auch wenn der Autor im westlichen Ausland nach wie vor weniger bekannt ist als seine populären Zeitgenossen Haruki Murakami (*1949) und Banana Yoshimoto (*1964), zählt er in Japan seit seinem Debüt in den 1970er Jahren zu den großen Bestseller-Autoren seiner Generation. Mit dem zweiteiligen Roman In Liebe, dein Vaterland (ursprünglicher Titel: Runter von der Halbinsel!), der im Original bereits 2005 erschien, liegt nach Coin Locker Babys (1980; deutsch 2015) nun endlich ein weiterer zentraler Text Murakamis in deutscher Sprache vor, dessen erster Teil „Invasion“ hier besprochen werden soll.

Ein Großteil der Handlung in diesem dystopischen Nahzukunftsroman ist ausgerechnet im Frühjahr 2011 angelegt, dem Jahr eines ganz realen Unglücks, das Japan und die Welt bis heute prägt. Die Dreifachkatastrophe von Fukushima konnte der Autor selbstredend nicht antizipieren – es wird eine Katastrophe ganz anderer Art inszeniert, die das Land, nicht weniger selbstverschuldet, ereilt.

Die Prämisse, die Murakami in seinem Roman entwickelt, zeichnet ein extrem düsteres Bild von Japans Zukunft: Inmitten einer Weltwirtschaftskrise stürzt nach dem Dollar auch der Yen ab, die Aktienmärkte brechen zusammen, und große Banken melden Insolvenz an. Private Geldanlagen werden in einer Notfallmaßnahme der japanischen Regierung eingefroren und die Mehrwertsteuer deutlich erhöht. Begleitet von einer Inflation rutscht der Staat in eine nie dagewesene Rezession. Die Zahl der Obdachlosen steigt dramatisch an, die Arbeitslosenquote steigt auf fast 10 Prozent, auch die Selbstmordrate in der Bevölkerung nimmt dramatisch zu. In nur wenigen Jahren ist auch die einstige „Mittelklassegesellschaft“ vollkommen verarmt, rund um die Metropolen bilden sich riesige Obdachlosensiedlungen. Die USA, nach zahlreichen teuren Kriegen im Nahen Osten selbst in einer tiefen wirtschaftlichen Krise, verschärfen die politische Lage in der Region durch gigantische Rüstungsexporte nach China und durch die Unterzeichnung eines Nichtangriffspakts mit Nordkorea. Wirtschaftlich vor dem Bankrott und politisch vollkommen isoliert steht Japan vor dem Abgrund. Diese nun offensichtliche Schwäche will der nordkoreanische Geheimdienst für sich nutzen. Ein Spezialkommando wird gegründet, um unter einem Vorwand die japanische Hafenstadt Fukuoka einzunehmen. Tatsächlich ist das aber nur der erste Schritt in Richtung einer großangelegten Invasion. Murakami zeigt sich in der Imagination dieses beklemmenden Szenarios durchaus nicht als Autor der leisen Töne, vielmehr zelebriert er einmal mehr den Superlativ.

Eine pessimistische Sicht auf die wirtschaftliche und politische Zukunft war in Japan zu Beginn der 2000er Jahre keinesfalls ungewöhnlich. Nach dem „Platzen der japanischen Wirtschaftsblase“ (baburu no hôkai) Anfang der 1990er Jahre, dem Zusammenbruch des sogenannten Sicherheitsmythos nach dem großen Erdbeben von Kôbe und dem terroristischen Saringas-Angriff der neureligiösen Vereinigung Aum auf die U-Bahn von Tôkyô, beide 1995, sowie nach den schmerzhaften Arbeitsmarktreformen zum Ende der 1990er Jahre, die der bis dahin als sicher angenommenen lebenslangen Vollbeschäftigung in der Arbeitswelt ein Ende setzen sollten, war in den Medien des Landes die Rede von einer „Verlorenen Dekade“.

Auch die japanische Literatur reagierte auf die allgegenwärtige Weltuntergangsstimmung, und so schien es mit der behaglichen Selbstbeschau, die noch in Werken der 1980er und frühen 90er Jahre mitunter zu finden war, erst einmal vorbei zu sein. Außenseiter, krankhafte Soziotypen, Tagelöhner sowie vom Arbeitsmarkt ausgeschlossene, verkümmerte „Quasi-Waisen“, die ihre Wut und Frustration über die von ihnen als restriktiv empfundene Gegenwartsgesellschaft kaum mehr unter Kontrolle halten können, sind zunehmend ein Thema in der Literatur rund um die Jahrtausendwende. Murakami ist hier ganz in seinem Element. Auch wenn In Liebe, dein Vaterland mit einem für den Autor ungewöhnlich großen Figurenensemble aufwartet (dem Text wurde ein mehrseitiges Figurenregister angefügt), sind es eben die Ausgestoßenen, so deutet es der erste Teil des Romans an, die möglicherweise Japans letzte Hoffnung sind.

Distanziert, schonungslos, mitunter nahezu dokumentarisch und trotzdem nicht ganz ohne Humor inszeniert das „Enfant terrible“ der japanischen Literatur in diesem Werk den drohenden Untergang des Landes. Große Mühe gibt sich Murakami dabei, ein kohärentes Zukunftsszenario zu erschaffen und zugleich Zusammenhänge und Hintergründe, trotz ihrer Komplexität, dem Leser leicht verständlich zu machen. Das Kunststück, das hier darüber hinaus ganz ausgezeichnet gelingt, ist es, den dystopischen Entwurf in durchaus unterhaltsame Literatur zu verwandeln. In Liebe, dein Vaterland I: Die Invasion ist ein spannender politischer Thriller, der bis heute nichts von seiner Brisanz und Aktualität verloren hat.

Titelbild

Ryū Murakami: In Liebe, dein Vaterland. I: Die Invasion. Roman.
Übersetzt aus dem Japanischen von Ursula Gräfe.
Septime Verlag, Wien 2018.
455 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783902711762

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