Wenn die Erinnerung spricht

Einige Überlegungen zum fünften Kapitel aus Vladimir Nabokovs Roman „Pnin“

Von Karl-Josef MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karl-Josef Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das perennierende Leiden hat soviel Recht auf Ausdruck wie der Gemarterte zu brüllen; darum mag falsch gewesen sein, nach Auschwitz ließe sich kein Gedicht mehr schreiben. Nicht falsch aber ist die minder kulturelle Frage, ob nach Auschwitz noch sich leben lasse (…).

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Pnin ist ein so sympathischer wie ungeschickter Zeitgenosse. Die Wirren der russischen Revolution haben ihn in die USA getrieben, er ist Professor für russische Literatur an einem kleinen College und in seinem Fach wenig erfolgreich.

Im Sommer 1954 wird er auf den Landsitz eines wohlhabenden Ehepaars russischer Herkunft eingeladen. Die Anfahrt gestaltet sich labyrinthisch, denn Pnin hat mit seinem Automobil in dem Kiefernwald, in dem das Anwesen liegt, komplett die Orientierung verloren:

Einer weniger einfühlsamen Seele als unserem imaginären Beobachter hätte es zuweilen vorkommen können, als würde diese hellblaue, eiförmige, zweitürige, in mittelprächtigem Zustand befindliche Limousine ungewissen Alters von einem Verrückten gesteuert. In Wahrheit war der Lenker Professor Timofey Pnin vom Waindell College.

Doch alles wendet sich zum Guten, denn das Schicksal hält seine behütende Hand über den scheinbar lebensuntüchtigen Pnin:

Pnin würgte den Motor ab und strahlte seine Freunde von seinem Sitz aus an. Der Kragen seines grünen Sporthemds stand offen; seine Windjacke mit dem halb aufgezogenen Reißverschluß schien zu eng für seinen eindrucksvollen Oberkörper; sein bronzener Kahlkopf mir der gerunzelten Braue und der auffälligen wurmförmigen Ader auf der Schläfe senkte sich tief, als er mit dem Türgriff rang uns schließlich aus dem Auto auftauchte.

Alle Widrigkeiten der Anfahrt sind vergessen. Unter seinen russischen Landsleuten fühlt Pnin sich sichtlich wohl, auch wenn bei allen Gästen des Landhauses die Trauer über die verlorene Heimat spürbar bleibt, vergleichbar einer Reihe von Wolken, die immer mal wieder für einige Momente die Sonne verschatten.

Bei einer „Partie Krocket“ nach dem Abendessen läuft Pnin zu großer Form auf. Er erweist sich als „mit Abstand der beste Spieler von allen“. Alles deutet darauf hin, dass ein gelungener Tag sich allmählich seinem Ende zuneigt.

Nach dem gewonnenen Match „zog Pnin sich still auf eine Bank unter den Kiefern zurück.“ Eine

furchteinflößende Herzsensation, die er im Laufe seines Erwachsenenlebens ein paarmal erlebt hatte, war aufs neue über ihn gekommen. Es war kein Schmerz und kein Herzklopfen, sondern ein schreckliches Gefühl, zu versinken und mit der Umgebung zu verschmelzen – Sonnenuntergang, rote Baumstämme, Sand, reglose Luft.

Schließlich setzt sich Rosa Schpoljanskij zu ihm und beginnt ein Gespräch über die Zeit vor der Revolution. Sie kennt Pnin aus Erzählungen ihrer

‚Vettern, Grischa und Mira Bjelotschkin. Er lebt in Schweden, glaube ich – und natürlich haben Sie von dem furchtbaren Ende seiner armen Schwester gehört …‘ ‚Allerdings‘, sagte Pnin. ‚Ihr Mann‘, sagte Madame Schpoljanskij, ‚war ein ganz reizender Mensch. (…) Er wurde von den Nazis getrennt von Mira interniert und starb im selben Konzentrationslager wie mein älterer Bruder Mischa. Sie haben Mischa nicht gekannt, oder? Auch er war einmal in Mira verliebt.‘

Als zum Abendtee gerufen wird, sagt Pnin „zu Madame Schpoljanskij, er würde in einer Minute nachkommen“.

Ohne dass man als Leser es sofort erkennen kann, tritt ein russisches Landhaus an die Stelle der nordamerikanischen Sommerfrische. Das Gespräch hat Pnin in die alte Heimat versetzt, er ist „aufs neue der ungeschickte, schüchterne, dickköpfige Achtzehnjährige, der im Dunkel auf Mira wartet“. Er stellt sich

mit halluzinatorischer Schärfe vor, Mira schlüpfe in den Garten und käme zwischen den hohen Tabakblüten, deren stumpfes Weiß sich in der Dunkelheit mit dem ihres Kittelkleids vermengte, auf ihn zu. Irgendwie paßte diese Empfindung zu dem Gefühl der Ausbreitung und Dehnung in seiner Brust.

Pnins Erinnerungen zeichnen das klassische Bild einer zarten, verflossenen Jugendliebe: „Der Bürgerkrieg 1918/22 trennte sie: Die Geschichte löste ihre Verlobung.“ Noch einmal wird er sie wiedersehen, „in den frühen Dreißigern“ in Berlin; wie er selbst ist sie „ebenfalls verheiratet (…).“ Erneut zeichnet die Erinnerung das Bild einer attraktiven jungen Frau, die sich schließlich ihrem Mann zuwendet, „und das war alles – aber es blieb der stechende Schmerz der Zärtlichkeit, dem vibrierenden Umriß eines Gedichts verwandt, von dem man weiß, daß man es kennt, und an das man sich dennoch nicht erinnern kann.“

Nicht mehr als die wehmütige Erinnerung an die erste große Liebe, könnte man meinen. Doch allmählich öffnet sich ein Abgrund, in den zu schauen sich verbietet:

Um bei Verstand existieren zu können, hatte Pnin sich in den letzten zehn Jahren beigebracht, nie an Mira Bjelotschkin zu denken – nicht weil die Erinnerung an eine für sich genommene kurze und banale Jugendliebe seinen Seelenfrieden bedroht hätte (…). Man mußte vergessen – weil man nicht mit dem Gedanken leben konnte, daß diese anmutige, zerbrechliche, zarte junge Frau mit diesen Augen, diesem Lächeln, diesen Gärten und diesem Schnee im Hintergrund per Viehwagen in ein Vernichtungslager geschafft und mit einer Phenolinjektion ins Herz gemordet worden war, in dieses sanfte Herz, das man unter den Lippen im Dämmer der Vergangenheit pochen gehört hatte.

Doch damit nicht genug. Da Pnin nicht weiß, wie genau Mira getötet wurde, „erlebte sie eine große Zahl von Wiederauferstehungen, nur um wieder und wieder zu sterben (…).“ Es folgt die Aufzählung aller erdenklichen Todesarten, eine schrecklicher als die nächste.

Bekannt ist der Ort des Lagers, in dem Mira ermordet wurde: „Es ist nur eine Fußstunde von Weimar, wo Goethe, Herder, Schiller, Wieland, der unnachahmliche und andere wandelten.“ Die edle Einfalt und stille Größe der deutschen Klassik und ihr Gedanke versöhnender Humanität sind nicht nur gescheitert, sondern in ihr Gegenteil verwandelt worden. Der Horror des absoluten Vernichtungswillens hatte einen seiner vielen Schauplätze „nur acht Kilometer vom kulturellen Herzen Deutschlands entfernt“.

Für Pnin bleibt das Vergessen, wohl aber auch die Ahnung, dass die Erinnerung sich wieder melden wird: „Dieser seltsame Krampf war vorüber, es ließ sich wieder atmen.“

Der Artikel ist zuerst erschienen bei haGalil.com. Jüdisches Leben online: https://www.hagalil.com/2022/11/pnin/

Titelbild

Vladimir Nabokov: Pnin.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2017.
304 Seiten, 9,99 EUR.
ISBN-13: 9783644056510

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