Recherche, Reflexion und Roman einer Kindheit

In seinem monumentalen Opus „Aufleuchtende Details“ versucht Péter Nádas das Erinnern zu verstehen

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie erinnern wir uns an die Jahre der Kindheit? Und was haben wir damals von der Welt verstanden? Diese zwei elementaren Fragen prägen Péter Nádasʼ Buch der Erinnerung, das den Untertitel Memoiren eines Erzählers trägt. Das Kind, das er erinnert, versucht hinter das Geheimnis der Wörter zu kommen, die Sprache zu verstehen und was die Erwachsenen damit meinen. Bei einem Besuch im südfranzösischen Internierungslager Le Vernet notiert der Erzähler im Gedenken an die Kinder, die Zeugen des Geschehens in den Kriegsjahren waren, dass sie damals alles gewusst hatten: intuitiv, ohne es exakt benennen zu können. Genauso wie er als Zweijähriger 1944 in Budapest, als er das grausame Geschehen während der Belagerung der Stadt noch nicht einzuordnen wusste. Und er fügt an: „Im Grunde genommen kämpfe ich bis zum heutigen Tag erbittert darum, die Wörter zu verstehen, die von den anderen gedankenlos verwendet werden.“

Schriftsteller wird nicht, wer die Worte hat, Schriftsteller wird, wer um die Worte kämpft wie Péter Nádas. Schon mit elf sei ihm klar geworden, „dass ich jetzt schon Schriftsteller war“, weil er nicht nur gelesen, sondern darauf geachtet habe, „welchen Stellenwert die Sätze haben, was sie anpeilen“. Diese inständige Reflexion über das Verstehen bildet das Rückgrat seines in mehrerer Hinsicht monumentalen Romans Aufleuchtende Details. Er erinnert daran, wie der junge, mit dem „Wundbrand der Wachheit“ (Peter Weiss) begabte Péter Nádas zum  Erzähler wurde. Das „autistisch“ und synästhetisch veranlagte Kind beobachtete scharf, hörte gut zu und wunderte sich immer wieder über das Gesprochene, das es vernahm, aber nicht verstand. Es sind oft nur kleine Einschübe zwischen längeren Erzählpassagen, die mit Nachdruck und Beharrlichkeit die eigene Erinnerung auf ihre Triftigkeit hin abklopfen. Der Schatten dieses Tuns legt sich indes auf all das erlebte, gespürte und durch spätere Recherchen gestützte Geschehen im Zeitraum der Jahre 1942 bis 1956: also zwischen Péter Nádasʼ Geburt und der Niederschlagung des Ungarn-Aufstands.

„Meine Neugier war von animalischer Kraft“, schreibt der Erzähler – doch wie sollen all die unscheinbaren Einzelheiten, die vibrierenden Ahnungen, die rumorenden Gefühle mitsamt der historischen Turbulenzen adäquat geschildert werden? Die vielleicht früheste Erinnerung demonstriert das Mysterium. Sie ist klar datierbar auf die Nacht auf den 27. Juli 1944. Zwischen „gespeicherten Gefühlen“ und Assoziationen tauchen bildhaft ein Treppenhaus, die Mutter und eine Detonation auf – dazu das Dunkel einer Ohnmacht. Im Nachhinein vermag der Autor nicht zu bestimmen, in welchem Speicher er seine Erinnerung aufgehoben hat: „Geblieben ist nur das bewegte Bild einer stufenweise verschwindenden sichtbaren Welt“, das nach einem Wort für das Vorgefallene verlangte. „Das Gefühl ist der Halbedelstein, das Wort ist die goldene Fassung.“

Auf der Suche danach hat Péter Nádas der Wahrnehmungskraft des zweijährigen Kindes nachgeholfen, indem er die Phantasie des Erzählers mit der Genauigkeit des Historiographen verbindet. Recherchen und Lektüren von Tagebüchern, Briefen sowie Gespräche, die der Autor mit vielen Menschen geführt hat, formen sich zu einem Strom der Erinnerung, indem sie an aufleuchtenden Details kristallisieren. Daraus entstanden ist ein weit ausgreifendes, filigran orchestriertes Tableau, das am Kristallisationspunkt der Belagerung Budapests um die Jahreswende 1944/45 festgemacht ist und von da in die verzweigte Familiengeschichte zurückblendet, in der sich die ungarische Geschichte widerspiegelt.

Der zeitliche Kern weitet sich so in die diachrone Tiefe ebenso wie in die synchrone Breite. In den Blick des Erzählers rückt auch jenes Geschehen, das zeitgleich mit seinen ersten Erinnerungen geschah. Die eigene Geburt am 14. Oktober 1942 verknüpft Péter Nádas mit historischen Ereignissen. Während seine Mutter an jenem Mittwoch mit „der Straßenbahn Nummer fünfzehn“ in die Klinik fuhr und ihn wenig später in die Welt entließ, „liquidierte“ das Hamburger Reserve-Polizeibataillon 101 das Ghetto von Misotsch, unterschrieb Ministerpräsident Miklos Kallay eine Verordnung zum Schaden jüdischer Pächter, und wurden in Bordeaux „siebzig Gefangene einzeln in den Hof hinuntergeführt“, um nach Auschwitz deportiert zu werden. Am selben Oktobermorgen, als sich Anna Frank und ihre Familie auf die Waage stellten, „kam ich unvorsichtigerweise lebend zur Welt“ – schließt Péter Nádas die erschütternde historische Koinzidenz mit einer nicht minder erschütternden Bemerkung. Er notiert, wie nebenbei, dass es „für mich bestimmt besser gewesen wäre, wenn ein Auto sie (die Mutter) überfahren oder eine Straßenbahn sie niedergewalzt hätte“.

Das 1278 Seiten umfassende Opus ist in zwei Kapitel von je rund 650 Seiten unterteilt, die sich zeitlich am Kriegsende 1945 scheiden. Sein erster Teil setzt die Belagerung Budapests durch sowjetische Truppen ins Zentrum, die von Ende Oktober 1944 bis Mitte Februar 1945 dauerte. Diese Wochen waren für den kleinen Péter Nádas ein intensives Erlebnis, auch wenn sich sein Auffassungsvermögen damals noch „in einem glücklichen Urzustand“ befand. Vor allem Bilder prägen sich ihm – dem späteren Fotografen – ein. Die Worte hörte er, ohne sie zu verstehen. Durch intensive Nachforschungen aber füllt der Erzähler Nádas die Wahrnehmungslücken und zeichnet das Bild einer Familie, die bedingungslos im kommunistischen Widerstand gegen das deutsch-faschistische Horthy-Regime stand. Eindrücklich und anschaulich beschreibt er das Leben in der belagerten Stadt, in der Leichen auf den Straßen lagen und die faschistischen Pfeilkreuzler nach Juden fahndeten oder Jagd auf Opponenten machten. Als Glücksfall erweist sich der familiäre Sinn fürs Pragmatische und Materielle respektive die Immunität „gegen alles Seelische“, wie er schreibt. Dieser Sinn sollte seine dunkle Kehrseite noch offenbaren. Speziell die Mutter beweist unter Lebensgefahr und brutalen Umständen immer wieder außerordentlichen Mut.

In dem Elternpaar Klára Tauber und László Nádas fließen zwei Familiengeschichten voller ausgesprochen schillernder Figuren ineinander. Zum einen ist da väterlicherseits der großbürgerliche Zweig der Mezei, dessen Exponenten im 19. Jahrhundert mithalfen, in Ungarn einen aufgeklärten Liberalismus zu begründen. Zum anderen kommt durch die Großmutter mütterlicherseits die mystische Tradition des Ostjudentums ins Spiel. Der Stamm der Nádas, ursprünglich Neumayer, weist wie jener der Tauber nach Österreich und vielleicht auch Deutschland. Solche Zuordnungen spielten in Péter Nádasʼ kommunistischem Elternhaus aber keine Rolle. Er wurde protestantisch getauft und wusste bis zu seinem achten Lebensjahr nicht, „dass ich mich im Sinn der Nürnberger Gesetze von 1935 […] als Jude betrachten müsste“.

Der Erzähler lässt es sich nicht nehmen, schillernde Verwandte wie die väterliche Schwester Magda (sein späterer Vormund) und ihren Mann Pál Aranyossi eindrücklich zu porträtieren; allein in ihren beiden Biografien, die sie selbst auch zu Papier gebracht haben, scheinen mehrere Leben Platz gehabt zu haben. So sehr sich die Familie Nádas dem rationalen Fortschritt verschrieb, so wenig vergisst der Erzähler die ostjüdische Großmutter, deretwegen die „hochgelobte rationale Welt“ auf der Ebene der Familie doch mit „der mythischen, poetischen und irrationalen Welt“ in Berührung blieb. Sie habe ihn, schreibt Nádas, die „infernalische Logik der Vernichtung und des Überlebens“ besser verstehen lassen als der „in meiner Familie gepflegte nüchterne Verstand“.

Auf sublime Weise durchdringen sich brutale Schilderungen aus der belagerten Stadt mit lokalen Anekdoten und breiten Rückblenden auf die historische Tradition. „All diese Geschichten überlappen sich. Sie kreuzen sich, geraten in Konflikte, sie leben nebeneinander, manchmal gegeneinander.“ Die Kunst von Péter Nádas besteht darin, dass er dafür eine gleichermaßen epische wie bewegliche literarische Form gefunden hat. Sein Roman ist der Form nach in grobe Blöcke gehauen, mit langen, absatzlosen Perioden. So leicht, wie sich darin Gegenwart und Vergangenheit, Familie und Politik begegnen, so fließend wechselt der Erzähler auch zwischen einer bürgerlichen Perspektive von oben und den Geschichten von unten aus dem schrecklichen Lebensalltag ebenso wie aus der kindlichen Optik. Vergleichbar dem Rhythmus der Gezeiten gehen Wellenbewegungen durch diese verschlungene Textur. Atemlos dichte persönliche Erinnerungen, die das Erinnern stets mitreflektieren, wechseln sich mal in harten Schnitten, mal in weichen Übergängen mit epischen Schilderungen ab, die aber stets auf das erzählende Ich zurückgebunden sind, das aus der erzählenden Perspektive all das Geschehene einordnen und verstehen kann.

Wie kunstvoll das konstruiert ist, bezeugt der motivische Rahmen des ersten Kapitels. Er setzt damit ein, dass beim Großvater Tauber ohne Pardon die Suppe zum sonntäglichen Mittagsläuten auf dem Tisch zu stehen hatte. Bevor das näher erläutert wird, wendet sich der Erzählstrang der Charakterzeichnung dieses Patriarchen mütterlicherseits zu, um sogleich weiter zu schweifen – bis der Erzähler 600 Seiten später, zum Abschluss des ersten Kapitels, nach unendlich vielen Windungen das Motiv wieder aufgreift. In die heiße Suppenschüssel passt gewissermaßen die ganze, überbordende Welt.

Im anschließenden zweiten Kapitel beruhigt sich der Rhythmus des Erzählens etwas. Die existentielle Gefahr durch Bomben, Hunger und Deportation wich dem lauernden Unheil eines politischen Systems, das seine Macht mit Misstrauen und Überwachung zementierte. Das Jahr 1945 setzte die Zäsur, zugleich wurde aber schnell sichtbar, dass die alten Seilschaften weiterexistierten. Für einige Jahre fanden die im Widerstand engagierten Eltern Aufnahme in der kommunistischen Nomenklatur. Das politische Klima blieb jedoch wechselhaft, sodass sich ihr Glück bald wendete. Vater wie Mutter verloren aus nicht restlos geklärten Gründen ihre Stellung. Zudem erkrankte die Mutter und starb 1955 an Krebs; der dement werdende Vater lebte nur drei Jahre länger als seine Frau. Der jugendliche Péter Nádas begann allen Fragen zum Trotz die Welt deutlicher zu erkennen, er vermochte das Geschehende besser einzuordnen. Die Erzählung bleibt deshalb näher an ihm und seinen Erfahrungen in der Schule oder bei den Verwandten. Das Verhältnis zu den Eltern behält dabei eine befremdliche Distanz, schon als Kind konnte er ihren zur Schau getragenen doktrinären Optimismus nicht teilen: „Sie hatten nicht einmal die Zeit, mich in irgendeiner Sache zu instruieren oder anzuleiten.“ Aus dem jugendlichen Skeptizismus entwickelte er eine schwarze Theologie, die vor seiner eigenen Zeugung nicht Halt macht.

Nádas beschreibt in anschaulicher Breite und sinnlicher Intensität, wie sich die politischen Vorgänge tief im Lebensalltag seiner Familie niederschlugen. Dabei gelingen ihm eindrücklich persönliche Porträts von Menschen, in denen er auch Seitenblicke auf die damalige Architektur, Möblierung oder Moden wirft. Der heranwachsende Junge bleibt wie der Erzähler ein Außenseiter im Kreis der Familie als auch in der neuen sozialistischen Gesellschaft. In seinem 20 Jahre älteren Vorbild und „Meister“ Miklós Mészöly, den er wiederholt erwähnt, würde er später einen Geistesverwandten finden. Doch in „einer Diktatur sind die Beziehungen der Maßstab. Das war das Problem mit mir. Ich hatte keine. in jenen Jahren sah man mir wohl deutlich an, dass ich auf dieser Welt ein Geduldeter war, ein vorläufig geduldeter.“ Sein Skeptizismus überdauerte die kommunistische Herrschaft, die länger währte als die wenigen Jahre der Kindheit.

Aufleuchtende Details fordert seine Leser und Leserinnen mächtig heraus. Das sei nicht verhehlt. Die Lektüre erfordert Geduld und Aufmerksamkeit. Dass sie gelingen kann, ist nicht zuletzt auch ein großes Verdienst der Übersetzerin (und Autorin) Christina Viragh. Auch ohne Vergleich mit dem ungarischen Original darf ihre Leistung hoch eingeschätzt werden, das verrät die elegante und wo nötig auch schrundige deutsche Übersetzung.

Péter Nádas zeigt sich in seinem opulenten Roman als kritischer Zweifler mit zwischendurch aufblitzendem bösem Humor, zugleich als außerordentlich präziser, scharfsinniger Beobachter und Chronist, der auf ein Jahrhundert der kriegerischen Perversionen und politischen Obszönitäten zurückblickt. Seine im persönlichen wie familiären Gedächtnis wurzelnden Erinnerungen sind in einem unruhig mäandernden Strom der Beobachtung und Reflexion aufgehoben. Diese Textur zeichnet eine Kippfigur, die die gestochen scharfen Erinnerungsbilder des historischen Subjekts schnell umschlagen lässt in phantastische Imaginationen des Romanautors. Auf diese Weise gehen sinnliche Intimität und vielstimmige Geschichte in einer meisterhaften Erzählung auf.

Titelbild

Péter Nádas: Aufleuchtende Details. Memoiren eines Erzählers.
Übersetzt aus dem Ungarischen von Christina Viragh.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2017.
1278 Seiten, 39,95 EUR.
ISBN-13: 9783498046972

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