Die Verwirrung des Lesers

In seinem neuesten Roman „Das Glück des Zauberers“ spielt Sten Nadolny mit der Realität und einer großen Metapher – leider nicht immer ganz gelungen

Von Veronika DyksRSS-Newsfeed neuer Artikel von Veronika Dyks

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Allem Zauber wohnt ein Anfang inne“ ist nicht etwa ein falsches Hesse-Zitat, sondern der Leitsatz, den der Zaubermeister Schlosseck seinem Schüler Pahroc in Sten Nadolnys neuestem Roman Das Glück des Zauberers mitgibt. (Tatsächlich soll Hesse derjenige gewesen sein, der in diesem Satz etwas durcheinandergebracht hat – nur um ein kleines Beispiel für Nadolnys Humor zu nennen.) Pahroc ist der jüngste Sohn eines Paiute-Indianers und einer Berlinerin und wächst in Pankow auf. Als Zauberer durchlebt er das 20. Jahrhundert und stirbt 2017 im Alter von 111 Jahren. Seiner Enkelin Mathilda, die sich ihm im Säuglingsalter durch ein „langes Ärmchen“ als Zauberin offenbart hat, hinterlässt er zwölf Briefe, in denen er vom Zaubern und vom Leben erzählt. Die Briefe bilden den Kern des Romans, der von zwei weiteren fiktionalen Texten eingerahmt wird: dem „Begleitbrief“ der zweiten Frau Pahrocs, Rejlander, und dem „Nachwort von Waldemar III.“, einem seiner Diener.

Die Briefe schildern memoirenartig Pahrocs Sicht auf das 20. Jahrhundert, lassen sich aber auch als Versuch einer Anleitung zum Leben verstehen. Jeder Brief hat einen Zauber zum Thema und berichtet vom Lebensabschnitt, in dem dieser eine Zauber erlernt wurde: zu Beginn der „lange Arm“, später das Fliegen oder auch das Erschaffen von Geld. Natürlich überreicht uns Sten Nadolny nicht den Schlüssel zur Lösung der universellen Frage nach dem Sinn des Lebens. Es handelt sich hier um die witzigen, lebensfrohen, teilweise tiefgründigen oder auch mal zweifelhaften Ratschläge, die der Zauberer Pahroc seiner Enkelin Mathilda mitgeben möchte. Will man zum Beispiel den „langen Arm“ zum Stehlen einsetzen, ist das nur erlaubt, wenn man gerecht bleibt und nur denen etwas nimmt, die es verkraften können: In Kriegszeiten ein paar Lebensmittel beim Bauern zu stehlen, ist also vertretbar. Gleichzeitig sollte man darauf aufpassen, dass man sich den Arm nirgendwo einklemmt, wie in „Türen, die sich schließen könnten, besonders Dreh- und Schwingtüren“.

Mit viel Humor, aber manchmal etwas zu plakativ verwebt Nadolny historische Realität und Zauberei. Der Erzählstrang über die Freundschaft des jungen Pahroc mit dem einzigen Zaubererkind aus der Nachbarschaft, Schneidebein, die nicht zuletzt an der unterschiedlichen Haltung zum Nazi-Regime zerbricht, ist im Zusammenspiel von Geschichte und Fiktion sehr gut gelungen und spannt einen roten Faden durch die Erzählung. Auch die Figuren, vor allem die Zauberer, sind liebevoll konstruiert. Zum Beispiel Schlosseck, Pahrocs Lehrer, der eine Vorliebe dafür hat, sich in ein Krokodil zu verwandeln. Oder der furchteinflößende, schielende Zauberer Babenzeller, der auf den zweiten Blick gar nicht so furchteinflößend ist und mit seiner Berufswahl überrascht. Am meisten überzeugt der Protagonist und Erzähler Pahroc, der mit Verstand, Witz, Unbedarftheit und – wie der Titel schon verrät – sehr viel Glück gute und schlechte Zeiten übersteht, indem er sich als Techniker, Erfinder, Küster, Soldat, Therapeut und noch einiges mehr behauptet.

Andere Versuche, Zauberei in die Realität zu integrieren, sind eher als mehr oder weniger gut gelungener Witz am Rande zu werten: So seien die drei heiligen Könige in Wahrheit Zauberer gewesen, die den Stern hinter sich herzogen, Einstein kam nur wegen eines Zauberers auf die Idee zu seiner Relativitätstheorie, und einige im Text verstreute Andeutungen sprechen auch Jesus Christus seine göttliche Herkunft ab. Ob man das lustig oder nervig findet, ist jedem selbst überlassen. Damit die Existenz von Zauberern in einer realitätsnahen Fiktion logisch erscheint, bedient sich Nadolny eines beliebten Narrativs der Unterhaltungsliteratur: Zauberer werden von „normalen“ Menschen verfolgt und müssen sich bedeckt halten. Einen eingeweihten, nicht-zaubernden Diener sollte aber jeder Zauberer haben, denn laut Meister Schlosseck sei Zaubern „anstrengend und erhöhe das Schlafbedürfnis“. Pahroc wird in seinem Leben insgesamt vier Diener haben, die er zwar wertschätzt, aber alle beim Namen des ersten ruft: Waldemar. Vielleicht deswegen, weil eben dieser erste Waldemar sein Leben für Pahroc, seine erste Frau Emma und die Kinder gibt, als sie von Schneidebein und den Nazis verfolgt werden.

Waldemar III., der unverbesserliche Pessimist, der eigentlich nicht zum Diener, sondern eher zum Schriftsteller geeignet ist, will sich dem Leser als Sten Nadolnys Alter Ego verkaufen. Von ihm ist auch das im Jahre 2032 verfasste „Nachwort“, das sich eher ungeschickt und unnötig politisch in der großen Frage des Briefromans positioniert: Ist Pahroc wirklich ein Zauberer oder ist das Zaubern nur eine große Metapher? Eine Metapher wofür? Obwohl das Nachwort enttäuscht und die Freude am kurzweiligen Buch im Nachhinein schmälert, kommt man nicht umhin, über diese Frage nachzudenken. Auch wenn Pahroc darauf besteht, dass Zauberer nicht besser oder schlechter seien als andere Menschen, so sind sie auf jeden Fall etwas Besonderes und müssen beschützt werden. Die Bewunderung des Schriftstellers Kurt Kusenberg, der im Roman als Figur auftaucht, unterstreicht diesen Gedanken. Denn die Bewahrung des Zauberhaften, Magischen durch das Schreiben scheint für das Vorbild Kusenberg, Erzähler Pahroc und Autor Nadolny gleichermaßen wichtig. Und will man Schlosseck glauben, dass jedem Zauber ein Anfang innewohnt, dann verweist das Zaubern auf einen ursprünglichen, archaischen Zustand, der in unserer Gesellschaft bedroht ist und erhalten werden sollte. Was genau das ist, kann nur vermutet werden: Vielleicht ist es eine besondere Art, die Welt zu sehen und wahrzunehmen, vielleicht ist es auch einfach nur Liebe oder Fantasie. Es ist allerdings schade, dass Nadolny die Frage nach der Metapher des Zauberns am Ende zwischen den Zeilen hervorholt und direkt verhandelt. Man möchte meinen, er traut seinen Lesern nicht mehr zu.

Das Glück des Zauberers ist kurzweilig und macht Spaß beim Lesen. Auch wenn sein Buch weder auf stilistischer noch auf inhaltlicher Ebene sehr anspruchsvoll ist, gelingt es Nadolny doch, eine authentische Briefsammlung eines Großvaters an seine Enkelin zu schaffen, die berührt. Die Retrospektive überzeugt durch Pahrocs persönlichen, zauberhaften Blick auf die Welt. Wie Rejlander schon in ihrem „Begleitbrief“ treffend schreibt: „ich jedenfalls liebe darin das Wahre ebenso wie das Erfundene“. Nicht ausschließlich, aber vor allem das Nachwort von Sten Nadolnys Alter Ego verdirbt jedoch die Freude an dem Buch. Es öffnet eine pessimistische, zukunftsorientierte, politische Ebene, die zwar schon in Pahrocs Briefen in vertretbarem, für die Figur angemessenem Maße angedeutet ist, hier aber völlig über ihr Ziel hinausschießt und Verwirrung hinterlässt. Es wäre besser gewesen, Sten Nadolny hätte es seinen Lesern überlassen, seinen Text zu deuten.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Sten Nadolny: Das Glück des Zauberers. Roman.
Piper Verlag, München 2017.
316 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783492058353

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