Marcia Nardi – eine verspätete Entdeckung
Die „Gesammelten Gedichte“ der US-amerikanischen Dichterin Marcia Nardi liegen jetzt in einer zweisprachigen Erstveröffentlichung vor
Von Nora Eckert
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDer Herausgeber und Übersetzer der Gedichte, Stefan Ripplinger, macht in seinem Nachwort als Grund für das Vergessen der Dichterin und auch für die nur geringe Beachtung zu ihren Lebzeiten einen männerdominierten Literaturbetrieb aus. Es wird wohl kaum der einzige Grund sein. Und ob Frauen nur eine Chance hatten, beachtet zu werden, sofern sie sich inhaltlich und technisch dem männlichen Mainstream anpassten, wie Ripplinger ebenfalls mutmaßt, kann nicht recht überzeugen. Obschon eine ausgesprochen weibliche Perspektive und ein unverkennbar feministischer Blick vielleicht nicht gerade das waren, was als Türöffner bei Verlagen damals im frühen 20. Jahrhundert funktionierte und zeitlich noch weit darüber hinaus. Denn natürlich gibt es auch die bekannten Namen, die etablierten weiblichen Dichterinnen neben der männlichen Dominanz: Sylvia Plath, Dorothy Parker, Lola Ridge, Audrey Lorde, Adrienne Rich, Louise Bogan, um einige zu nennen. Aber eben keine Marcia Nardi.
Gleichwohl wäre es interessant zu wissen, warum Nardi die Aufmerksamkeit vorenthalten wurde, warum sie mit ihrer bei aller Sprödheit eindringlichen, emotional offenen und in einem wortwörtlichen Sinne immer auch persönlichen Lyrik weitgehend unbeachtet blieb und dies, obwohl es weder an Vernetzung, wie wir heute sagen, noch an männlicher Fürsprache fehlte (darunter William Carlos Williams, Thornton Wilder und Robert Lowell).
Immerhin lässt sich jetzt – mit großer Verspätung – erkennen, wie wichtig die kulturarchäologische Arbeit der Wieder- und Neuentdeckungen ist, um einerseits gegen eine ausschließende beziehungsweise einengende literarische Kanonisierung und andererseits gegen unsere allzu bereite Vergesslichkeit Position zu beziehen, um so die künstlerische Vielstimmigkeit wachzuhalten. Bevor wir uns Nardis Gedichten widmen zunächst die Frage: Wer war Marcia Nardi?
Geboren wurde sie 1901 in Boston als Lillian Massell und als Kind einer litauisch-jüdischen Familie. Sie starb 1990 in Watertown (Massachussetts). 1956 erschien eine kleine Auswahl an Gedichten in einem auf Lyrik spezialisierten Verlag in Denver, nämlich als Band 16 von The New Poetry Series. Posthum kam es 1994 zur Veröffentlichung des Briefwechsels zwischen ihr und William Carlos Williams unter dem Titel The Last Word; Williams war hauptberuflich als Arzt tätig, was nebenbei bestätigt, dass man von Gedichten kaum leben kann. Nardi lernte ihn 1942 kennen. In der Besprechung der New York Times hieß es, die Autorin gleiche einer Dickens’schen Figur, aber sie sei auch eine Dichterin von Rang gewesen. Der Briefwechsel vermittle genau das: Sie sei mehr als nur eine literarische Fußnote, ihr Leben beschreibe vielmehr eine verhinderte Karriere. Die Erfolglosigkeit war darin ein Aspekt, ein anderer, dass sie alleinerziehende Mutter war und in vorwiegend prekären Verhältnissen lebte. In Ripplingers sehr einfühlsamem und engagiertem Nachwort finden sich noch weitere biografische Details, die ein Leben als einen mehr oder weniger aussichtslosen Hindernislauf beschreiben.
Ihre Gedichte laden förmlich zur autobiografischen Lesart ein. Das hatte Louise Bogan in A Poet’s Alphabet 1956 klar erkannt: „Sie reagiert so unmittelbar auf das, was ihr widerfährt, dass alles, was sie sagt, als ungekünstelt und tatsächlich empfunden wiedererkannt werden kann.“ Es sei, als habe sie sich förmlich von den Gedichten schreiben lassen, wobei die Dichterin beweise, „dass sie jemand ist, der geschrieben werden sollte“. In Nardis Worten klingt das so: „Meine Gedichte überschwemmen mich.“ In einem Brief von Williams vom Juni 1949 rühmt er Nardis Gedichte als „warm, ungeschützt und gut gemacht“. Mit dem Gut-Gemachten war ein Lob der dichterischen Form mit ausgesprochenem Sinn für Metrik und feinem Sprachgefühl gemeint.
Genau das finden wir in den nun versammelten Gedichten – und Ripplinger weist zurecht darauf hin, dass in all der Kombinatorik gegenläufiger Blickrichtungen, den Realitätsüberlagerungen, die sich wie sprachliche Interferenzen verhalten und scheinbar Unvereinbares zusammendenken, auch in den abrupten Stimmungswechseln hin zu Verfinsterungen, dass in all dem mindestens auch ein Sinn für Surreales wirksam ist. Mit gleichem Gewicht spricht Nardi immer wieder auch soziale Wirklichkeiten an, unmissverständlich, klar und umstandslos und gelegentlich auch von Sarkasmus begleitet: „So sanft gehen die Reichen durch ihr Unrecht.“ Oder „Im Irrenhaus“:
Kein Selbst haben wir … wir sind sie,
Als unser Ich kostümiert,
Und so wurd‘ uns mehr von ihm entrissen,
Als der Tod uns je nehmen wird.
Deutlich wird dieser Blick für soziale Wirklichkeiten auch, wo es beispielsweise um das Alter geht, das sie als Frau unsichtbar und deshalb traurig macht. Wenn es heißt „Darf ich helfen, meine Liebe“ übersetzt Nardi das mit „Du Ärmste bist alt“. Darum die Einsicht: „Erkenne ich, was mich beschämt. / Ich bin alt“. Und dann „Doch nur langsamen Schritts gelange ich / Zur Einsicht, dass der Tod meiner harrt.“ An anderer Stelle dann die Angst, am Ende im Leben leer auszugehen („Late Love“):
Könntest du nicht so mein Leben löschen,
Es überschreiben und Sonnenlicht
In die sechzig Jahre tragen,
Die lichtlos verrannen?
Eines der Gedichte ist mit „Aging“ überschrieben: „Die Ehe, die ich nicht zustande brachte, / Das Ungeheuer der Lust, das ich nicht niederrang / […] Und stets die Kluft / Zwischen einer Gedichtidee und dem Fixierten auf dem Papier“. Womit das Leben und das Schreiben sich in einer parallelen Wahrnehmung vermischen: „Aber das Wollen ist immer schneller / Als meine schüchtern stammelnden Wörter“. Was das sexuelle Begehren betrifft, hat sich dies wohl eher im Nichts aufgelöst, während die Wörter noch lange in ihr kreisen, um Gedichte zu werden. Für jeden der ein Dutzend Männer, derer sie sich erinnert, war sie im Leben etwas anderes gewesen, doch im Heute ist all das zusammengeschrumpft auf ein Wort, was sie den Männern sei: „Nur ein einziges Ding allen zusammen – Alt.“
Marcia Nardi bilanziert das Leben, ihr Leben eher mit Vorbehalten und Zweifeln. Das mag manchen vielleicht zu düster erscheinen, aber Leben sind eben wie sind und Gedichte wohl die intensivste Art, das auszudrücken. Und dann gibt es auch zuweilen das Unerwartete, wenn die Dichterin den Kummer abschüttelt wie in „Melody in A“, als stiege Kleeduft vom Pflaster auf, als würden die Mauern golden und der Himmelsdunst wechselte vom Grau ins Rosé –
Mit alldem habe ich nicht gerechnet
Und spürte mein Herz voll Furcht
Wie das eines Kindes, das um Mitternacht geweckt
Wie immer es zu dieser späten Entdeckung kam, dem Herausgeber und Übersetzer Stefan Ripplinger ist ohne Frage ein wertvoller Fund in die Hände gefallen, den er uns wärmstens empfiehlt – zu Recht.
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