Sozialismus oder Feminismus?
Cornelia Naumanns Roman „Fräulein Prolet“ ruft den Bund sozialistischer Frauen in Erinnerung
Von Rolf Löchel
Ich versuche, Fragen, die ich an bestimmte Aspekte unserer Gegenwart oder historische Ereignisse habe, zu beantworten, indem ich Figuren losschicke, auf Expeditionen gewissermaßen. Ich versuche, hinter Schlagzeilen, Formeln und Vorurteile zu gelangen, zu möglichst differenzierten Wahrnehmungen durch möglichst subjektive Sicht.
Diese Sätze von F. C. Delius hat Cornelia Naumann ihrem Roman Fräulein Prolet als Motto vorangestellt. Und genau das hier Beschriebene hat sie erfolgreich getan.
Die Handlungszeit des umfangreichen Romans reicht im Wesentlichen von der Novemberrevolution bis zur Niederschlagung der Bayrischen Räterepublik, umfasst also etwa sechs Monate der Jahre 1918 und 1919. Auf einer zweiten Ebene werden – wesentlich kürzer – Ereignisse rund um Hitlers Putschversuch 1923 fiktionalisiert. Zwischengeschaltet ist beiden Erzählebenen eine dritte, auf der eine inzwischen exilierte Freundin der Protagonistin Fritzi im Jahr 1943 in einem Fotoalbum blättert und sich dabei an die damaligen Ereignisse erinnert. Wer diese Ich-Erzählerin ist und wann sie das tut, schält sich allerdings im Laufe der Lektüre erst langsam heraus.
Die Autorin verknüpft fiktionale Figuren und ihre Geschichte mit den realen Geschehnissen und Menschen im unruhigen München der frühen 1920er Jahre. So sind etwa die Plakate und Flugblätter, die Fritzi liest, historisch verbürgt. Überdies bevölkern zahlreiche Frauen und Männer das Buch, die tatsächlich gelebt haben. Reden, die Naumann damaligen Frauenrechtlerinnen wie etwa Anita Augspurg in den Mund legt, folgen deren Publikationen.
Zentraler Handlungsort ist München. Kurzfristig allerdings auch Berlin, wo sich Fritzi 1919 den Film Nerven anschaut und die Schauspielerin und spätere Drehbuchautorin Erna Morena persönlich kennenlernt. Auch nach der Niederschlagung der Revolution verlässt die Protagonistin vorübergehend die bayrische Hauptstadt und sucht auf dem damals schon im Niedergang befindlichen Monte Verità Zuflucht. Dort glaubt sie, unter den AussteigerInnen ein neues Leben und die freie Liebe zu finden, wird jedoch von der expressionistischen Malerin Marianne von Werefkin belehrt: „Der Mythos Monte Veritá [sic] ist vorüber, seine dekadenten Reste machen einsam und unglücklich“. Nicht nur darum verlässt Fritzi die „Kohlrabi-Apostel“ bald wieder. Für den Plot des Romans sind sowohl die Berliner wie auch die Episode auf dem Monte Verità ohne Belang und werden dementsprechend etwas oberflächlich abgehandelt. Die Figuren des Monte Verità werden (anders als Erna Morena) in dem ansonsten umfangreichen Personenverzeichnis denn auch nicht einmal aufgeführt.
Das München der frühen 1920er Jahre wird von der Autorin sehr detailliert beschrieben. Dabei schlägt sie ein Panorama der Stadt auf, konzentriert sich jedoch insbesondere auf den proletarischen Stadtteil Giesing mit seinen ArbeiterInnen, den Dienstmädchen, den sozialistischen Kreisen und Menschen, die Marx als Lumpenproletariat galten. Doch nicht nur die Stadt, sondern etwa auch die Inneneinrichtung des berühmten Atelier Elvira wird recht akkurat beschrieben. Ermöglicht wird das der Autorin durch den glücklichen Umstand, dass einige Fotografien des Interieurs erhalten sind, die von Naumann offenbar herangezogen wurden.
Die Protagonistin und Identifikationsfigur Fritzi hat die Schule nur bis zur fünften Klasse besucht und ist ohne Abschluss abgegangen. Zu Beginn der Handlung Ende 1918 ist sie gerade einmal 17 Jahre alt und arbeitet in einer Münchner Waffenfabrik der Firma Krupp. Bald aber erhält die Hobbyfotografin zu ihrer eigenen Überraschung eine Ausbildungsstelle im bereits erwähnten Atelier Elvira, das zu dieser Zeit allerdings nicht mehr von den berühmten Feministinnen Anita Augspurg und ihrer damaligen Partnerin Sophia Goudstikker betrieben wird, sondern von Emma Uibeleisen, die davon „beeindruckt“ ist, wie es dem „wilde[n] Mädchen mit roten Haaren“ gelingt, mit ihrer Kamera „Menschen in ihrem Alltag einzufangen“. Fritzi ist hellauf begeistert von ihrer neuen Tätigkeit, hat aber auch noch ein ganz anderes Anliegen. Denn die zwar enthusiastische, aber zumindest zu Beginn wenig reflektierte Sozialistin will beweisen, dass die promovierte „Nationalökonomin und USP-Streikführerin“ Sonja Lerch nicht, wie noch heute vermutet, im Gefängnis aus Liebeskummer Suizid begangen hat, sondern ermordet wurde. Eine Mission, die schließlich ihr eigenes Leben bedrohen wird.
Fritzi, die findet, dass Rosa Luxemburg „mit allem, was sie sagt […] Recht [hat]“, hält von der parlamentarischen Demokratie ebenso wenig wie ihre sozialistischen GenossInnen. Vielmehr „malen [sie] sich die schönsten Utopien aus“ und wollen eine Räteherrschaft mit imperativem Mandat sowie Geschlechterparität und ansonsten die „freie Liebe“. „Ich will Revolution, Chaos, Brunst, Rausch, Leben ohne Herrschaft“, ruft Fritzi einmal in höchster Erregung. Von „Lenin und seiner Diktatur“ aber hält sie gar nichts. „Proletariat oder nicht, Diktatur bleibt Diktatur“, stellt sie einmal lapidar fest. Dass sie vor nicht allzu langer Zeit selbst eine „Volksdiktatur“ forderte, hat sie da offenbar vergessen.
Jedenfalls besetzen die RevolutionärInnen das Pressehaus der Münchner Neusten Nachrichten mit der Parole „alle Macht den Räten und einer freien sozialistischen Presse“ und bescheiden den Anwesenden: „Jetzt schreibt ihr was wir wollen!“. Damit handeln sie ganz gemäß Rosa Luxemburgs berühmter Randnotiz in ihrem nicht zu Ende geschriebenen Manuskript Zur russischen Revolution, der zufolge Freiheit immer die Freiheit der Andersdenkenden ist, die sich – was weniger bekannt ist – ausschließlich auf die Andersdenkenden in der Partei bezog, nicht aber auf alle anderen. Von der parlamentarischen Demokratie hielt Luxemburg ebenso wenig wie Fritzi. So forderte die bekannte Spartakistin am 23. Dezember 1918 „die Nationalversammlung […] zu berennen und zu schleifen“, wenig später sogar „die Liquidierung der USPD“.
Alle „Begeisterung“ für Luxemburg und die Revolution kann Fritzi und ihre Genossinnen allerdings „nicht darüber hinwegtäuschen, dass die neue Räteregierung kein eindeutiges Programm hat“. Es ist dann Anita Augspurg, die ihren Enthusiasmus noch weiter „dämpft“, indem sie darauf hinweist, dass ihr Antrag, einen Frauenrat einzurichten, vom revolutionären Rätekongress „glatt abgeschmettert“ wurde. Ebenso der, ein Frauenbüro einzurichten. Und Fritzis Vorstellung von Mütterräten und Kinderräten lösen bei der Kommunistin Hilde Kramer nur ein „verächtlich[es]“ Lachen aus. So langsam fragen sich Fritzi und ihre Mitstreiterinnen daher, ob „die Räterepublik den Frauen [schade]“.
Gegen Ende des Romans geht es Fritzi und den ihren denn auch mehr um Frauenemanzipation als um die proletarische Revolution. „Fort mit der ewigen weiblichen Knechtschaft, fort mit den Bücklingen vor Herrschaften, fort mit Zwängen, kein Korsett mehr, keine Ehe, kein Kinderzwang, keine Zensur, kein Opportunismus“, skandieren sie nun.
Fritzi ist so ziemlich bei allen wichtigen Ereignissen der bewegten Zeit mittendrin. So hört sie etwa nicht nur Hitlers Rede im Bürgerbräu, sondern versucht sogar, Kurt Eisner nach dem auf ihn verübten Mordanschlag wiederzubeleben. Auch geht Fritzi nicht nur im Atelier Elvira ein und aus, sondern besucht auch verschiedene prominente Orte der Münchner Bohème wie etwa das als Café Größenwahn bekannte Café Stefanie und Kathi Kobus’ schlicht Simpl genanntes Caféhaus Simplicissimus.
Zum überaus umfangreichen Figurenkabinett zählen neben der Protagonistin etwa Fritzis Genossin und beste Freundin Jette und Max, ein bayerischer Matrose, mit dem Fritze liiert ist, sowie nicht zuletzt der sechzehn Jahre ältere Leichenwagenfahrer Sepp, Vater dreier Kinder, von denen das älteste zwölf Jahre alt ist. Fritzi, die auf Wohnungssuche ist, kommt bei dem bodenständigen, klarsichtigen und besonnenen Mann unter, der ihren revolutionären Drang sehr gut versteht. Bei ihm sieht Fritzi zufällig Bebels Klassiker Die Frau und der Sozialismus und beginnt das Buch zu lesen. Ein für sie prägendes Bildungserlebnis.
Fritzi lernt zahlreiche reale Figuren des Zeitgeschehens kennen. Darunter sind selbstverständlich die wichtigen Akteurinnen des heute kaum bekannten Bundes sozialistischer Frauen, aber auch der ein oder andere (spätere) Nazi. Nicht immer rechtfertig der Plot diese Begegnungen. Allerdings ist es verständlich, dass Naumann an einige der zu Unrecht vergessenen Frauen erinnern will. Wie etwa an die einstige Weltrekordhalterin im 100-Meter-Lauf und im Weitsprung Babett Kiessling oder die als „Vaterlandsverräterin’ im Alter von 19 Jahren ermordete Maria Sandlmayer, von der Fritzi weiß, dass sie verfolgt wird, es aber versäumt, sie zu warnen. Anders als bei den genannten wäre eine Erinnerung an Werefkin nicht notwendig gewesen, wohl auch kaum die an Erna Morena. Beide Begegnungen sind für die Geschichte bedeutungslos.
Zu den historischen Persönlichkeiten, die Fritzi mehr oder weniger gut kennenlernt oder zumindest trifft, zählen natürlich auch Emma Uibeleisen, die Inhaberin des Atelier Elvira, deren Vorgängerin Anita Augspurg als „imposante“ aber „huldvoll[e]“ Dame vorgestellt wird, die Fritzis Großmutter sein könnte. Ungeachtet des großen Altersunterschieds verstehen sich beide Frauen gut. Augspurg hat zur Handlungszeit nicht nur das Fotoatelier an Uibeleisen abgegeben, sondern ist auch nicht mehr mit ihrer Mitinhaberin Goudstikker liiert. Vielmehr hat sie inzwischen in Lida Gustava Heymann ihre Lebenspartnerin gefunden, die ebenfalls eine größere Rolle im feministischen Geschehen spielt und ebenso wie ihre Partnerin dem Bund sozialistischer Frauen angehört.
Ellen Ammann hat hingegen den katholischen Bayerischen Frauenverband gegründet. Zwar ist der Verband nicht eben als fortschrittlich bekannt, doch spielte seine Gründerin im Roman wie in der Wirklichkeit eine nicht unbedeutende Rolle bei der Niederschlagung von Hitlers Marsch auf die Feldherrenhalle.
Revolutionär sind hingegen etliche der Männer, mit denen Fritzi mal mehr, mal weniger viel zu tun hat: Etwa Erich Mühsam, der passenderweise seinen ersten Auftritt hat, als er im hohen Bogen aus dem Simpl fliegt. Ansonsten wird er etwas zu positiv dargestellt. Vor allem bleibt seine Misogynie unerwähnt. Allzu idealisiert wird auch „die Seele der Revolution“ Kurt Eisner; dies allerdings aus Fritzis Sicht. Eine orthodox-marxistische Revolutionärin gibt Eisner hingegen die Schuld am Scheitern der „sozialistischen Räterepublik“. Denn „in seiner Güte“ habe er „versäumt“, „uns in den Besitz der Produktionsmittel zu setzen“. Als einen „einsame[n] Mensch[en] über den Massen schwebend“ nimmt Fritzi hingegen Eugen Leviné wahr. Dass sie eine von ihm gehaltene Rede nur aus der Ferne hört und darum nicht verstehen kann, ist durchaus auch metaphorisch aufzufassen.Ganz und gar nicht revolutionär ist hingegen der später im vermeintlich tausendjährigen Reich zu hohen Ehren gekommene Fotograf Heinrich Hofmann, der Fritzi seine NSDAP-Mitgliedschaft verschweigt.
Naumanns Fiktionalisierung realer Ereignisse setzt oft auf die Emotionalisierung der Lesenden. Dies betrifft insbesondere die Schilderung des reaktionären Terrors während der Niederschlagung der Räterepublik: „Einabgemagertes Kind sitzt auf einer Bordsteinkante neben der erschossenen Mutter und weint verstört vor sich hin […] Frauen brechen auf der Straße neben ihren toten Männern zusammen, werden nach Stadelheim gezerrt und dort erschossen“. Dies allerdings sind auch Szenen, die sich tatsächlich so oder so ähnlich ereignet haben.
Zwar erfahren die Lesenden am Ende, was aus den literarischen Hauptfiguren in den Jahrzehnten nach der Handlungszeit geworden ist; nicht aber, wie sie inzwischen zu ihren (ehemaligen?) Idealen und Ideologien stehen. Jette zumindest scheint immer noch Rätekommunistin zu sein: Sie bedauert, dass die zweite, niedergeschlagene Räterepublik die letzte war. Dabei erkennt sie durchaus, dass die RevolutionärInnen damals „nur einige wenige Außenseiter“ waren.
Zwar überrascht die Autorin gelegentlich mit originellen wie treffenden Wendungen. Etwa, wenn sie formuliert: „Ihr Herz schlug bis in die Schläfen“. Andererseits aber stolpern die Lesenden auch schon einmal über ahistorische Formulierungen. So hätte zur Handlungszeit wohl niemand von einer „Weibergang“ gesprochen oder davon, dass jemandem der „goldene Schuss [ge]setz[t]“ werden könnte. Auch wird in den 1920er Jahren kaum jemand einem anderen vorgeworfen haben: „Du blickst es nicht“. Für derlei werden die Lesenden allerdings durch amüsante Metaphern mehr als entschädigt, die etwa einer „zierliche[n] Frau […] die krausen hellblonden Locken“ um das Gesicht „wie ein Heiligenschein aus Sauerkraut“ stehen lassen. Hinzu kommen ausgefallene Wortschöpfungen. So hat Fritzi „von ihren siebzehn Jahren“ in Schlangen vor Lebensmittelläden oder mit einem Besuchsschein in der Hand vor Gefängnistoren „gut zwei verstanden und verwartet“.
Die Figuren sind hingegen oft recht eindimensional gezeichnet und der Bund Sozialistischer Frauen spielt keine so große Rolle, wie es der Klappentext des Buches erhoffen lässt. Das mag damit zu entschuldigen sein, dass kaum historische Dokumente über ihn oder gar von ihm überliefert sind. Der Autorin zufolge sind gerade einmal zwei Flugblätter des Bundes erhalten geblieben.
Insgesamt kommt Naumanns Erzählweise ohne größere literarische Finessen aus. Ihr geht es offensichtlich weniger darum, wie sie erzählt, als vielmehr darum, was sie erzählt.
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