Variationen der Gegenwart
Michael Navratil lotet das kontrafaktische Referenzverhältnis politischer Literatur aus
Von Eva Stubenrauch
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDass die Kontrafaktik immer ein Genre ihrer Gegenwart ist, konnte man schon an der umstrittenen Werbekampagne zum Start der Amazon-Serie The Man in the High Castle und ihren Folgen beobachten. Im Herbst 2015 hatte Amazon Wagen der New Yorker U-Bahn mit Nazi-Symbolik verziert: Die Sitzreihen trugen entweder das Design der japanischen Militärflagge oder einer US-Flagge, in der die Sterne durch einen Reichsadler mit Kreuz ersetzt wurden. Die Symbolik verweist auf die kontrafaktische Handlung der Fernsehserie, in der die Militär-Allianz aus Deutschland und Japan den Zweiten Weltkrieg gewonnen und die in zwei Machtzonen aufgeteilten USA besetzt hat. Der PR-Gag zielte darauf, starke Emotionen zu provozieren, die die New Yorker Pendler:innen angesichts der militärischen Ästhetik ehemaliger Feindmächte wohl auch verspürt haben: Der Aufruhr, der durch die Sozialen Medien ging, und die Intervention des New Yorker Gouverneurs, der die entsprechenden Wagen aus dem Verkehr zog, zeigen das hohe Provokationspotenzial der Kontrafaktik, deren Realitätsvariation fast immer eine politische Deutung nahelegt.
Zu dieser Thematik liegt nun mit Michael Navratils Kontrafaktik der Gegenwart eine fulminante Studie vor. Sie begreift Kontrafaktik als „signifikante Variation realweltlichen Faktenmaterials innerhalb fiktionaler Medien“. Damit nimmt das Buch Kontrafaktik als literarisch-künstlerisches Phänomen in den Blick – losgelöst von ihrer primär epistemologischen Behandlung in Geschichtswissenschaft und Psychologie. Auch wendet es sich gegen die Identifikation von Kontrafaktik und Alternativgeschichte. Die Reduktion der Fakten auf historische Fakten sei eine unzulässige Verengung der kontrafaktischen Realitätsreferenz, die auch gegenwärtige Diskurse, zukunftsweisende Tendenzen oder gängige Formen der Wissensproduktion variieren könne. Im Gegensatz zu tradierten Forschungsmeinungen wird die Kontrafaktik hier weder als Genre noch als Erkenntnismedium, sondern als genreneutrale Referenzstruktur sichtbar gemacht. In der Realitätsreferenz und ihrer fiktionalen Variation liegt auch die normative Dimension des Kontrafaktischen und damit laut Navratil seine genuin politische Funktion. Diese fiktionstheoretischen Grundprämissen werden auf den ersten 240 Seiten der Studie systematisch entfaltet und begründet.
Im Hauptteil der Studie untersucht Navratil dann eine Reihe fiktionaler Genres, die man – mit Ausnahme der Alternativgeschichte – normalerweise nicht als kontrafaktisch bezeichnen würde. Der Dokumentarismus, die Utopie und die Dystopie sind allesamt Genres der Gegenwartsliteratur, die laut Navratil eine besondere Affinität zum kontrafaktischen Erzählen haben und seine Verfahren der Realitätsvariation ausweiten. Die Studie ordnet jedem dieser Genres eine:n prominente:n Gegenwartsautor:in zu: Die Alternativgeschichte wird mit der Poetik Christian Krachts erörtert, der Dokumentarismus mit Texten Kathrin Rögglas, für die Bezüge von Kontrafktik und Dystopie ist das Schreiben Juli Zehs paradigmatisch und das Kontrafaktische der Utopie offenbart die Analyse der literarischen Produktion Leif Randts. Weil mit den vier Autor:innen besonders avancierte Vertreter:innen der gegenwärtigen Literaturlandschaft ausgewählt wurden, zeigt sich hier (außer bei Juli Zeh) jeweils ein sehr kreativer Umgang mit Genrekonventionen. Auf diese Weise kann Navratil seine These belegen, dass die Kontrafaktik kein eigenes Genre, sondern eine literarische Strategie ist, die quer zu den literaturwissenschaftlichen Einteilungsgewohnheiten liegt.
Aus den vier Autor:innenstudien und der Analyse ihrer kontrafaktischen Erzählverfahren gewinnt Navratil eine Systematik aus vier Formen des Politischen in der Gegenwartsliteratur: Normative Gesellschaftsbezüge äußern sich bei Christian Kracht als Provokation, die darin besteht, dass die kontrafaktische Geschichtsdeutung „in eine Spirale der unendlichen Selbstreflexivität“ hineingerät und damit ihren Status als klare politische Alternative verliert. Kathrin Röggla verwandelt die kontrafaktische Referenz subversiv in eine formale Verfremdung des Sprachmaterials, mit dem gemeinhin Fakten gewonnen und stabilisiert werden. Für Juli Zeh sind kontrafaktische Bezüge Teil einer engagierten Strategie, die Konsequenzen gegenwärtiger Verhältnisse literarisch zu extrapolieren. Bei Leif Randt schließlich sind die kontrafaktischen Bezüge in der scheinbar affirmativen Darstellung des Kreativen Kapitalismus versteckt und erzeugen darin eine Unentschiedenheit, die das Politische sowie die Entscheidung einer utopischen oder dystopischen Lesart den Leser:innen überlässt.
Es ist eine große Leistung der Studie, ein Analyseraster bereitzustellen, mit dem die literarische Kontrafaktik in ihren verschiedensten Ausprägungen interpretiert und verglichen werden kann. Indem sie ihre Argumentation mit hoher Präzision entwickelt, schrittweise ausführt und detailliert an Beispielen belegt, hat die Studie fast einen Lehrbuchcharakter und lässt sich gut in didaktischen Kontexten verwenden. Dadurch dass Navratil die Kontrafaktik aus dem engen Rahmen ihrer konventionellen Bestimmung herauslöst, wird ihr Nutzen für die hermeneutische Interpretation literarischer Hybridisierungen von Fakt und Fiktion freigelegt, die in der Literatur unserer Gegenwart Hochkonjunktur haben. Als Referenzstruktur verstanden, gewinnt die Kontrafaktik somit Relevanz für die Analyse komplexer Genremixturen, die besonders bei kanonischen Gegenwartsautor:innen zu finden sind. Damit leistet Navratil zugleich eine Nobilitierung der von der Forschung oftmals in eine Nische der Populärkultur verbannten Kontrafaktik: Weil sie ihm gerade dazu dient, diejenigen literarischen Passagen zu analysieren, die von Genrekonventionen abweichen, Eindeutigkeiten destabilisieren oder „metafaktisch“ aktuelle Formen der Wissensproduktion reflektieren, wird die Kontrafaktik bei Navratil zur Kunst.
Es ist außerdem ein besonders kluger Schachzug des Verfassers, eine Theorie bestimmter literarischer Erzählverfahren vorzuschlagen, sie dann aber nicht mit eindeutigen Beispielen zu bestätigen, sondern sie an den Rändern des Phänomens zu plausibilisieren. Er entgeht so der bekannten Gefahr literaturwissenschaftlicher Theoriearbeit, dass sich die literarische Lektüre nunmehr innerhalb der Grenzen theoretischer Prämissen vollziehen kann, die zuvor und unabhängig von der Literatur entwickelt wurden. Navratil verfährt hier anders und stellt seinem Theorieteil bewusst literarische Textanalysen an die Seite, die einer schematischen fiktionstheoretischen Kategorisierung zuwiderlaufen oder aber weitere, von der Theorie noch unberücksichtigte Facetten der Kontrafaktik freilegen. So zeigen sich etwa bei Christian Kracht narrative Strategien, die kontrafaktische Deutungen zerfasern lassen, oder bei Kathrin Röggla Dimensionen des Kontrafaktischen, die weniger in den propositionalen Aussagen des literarischen Texts als vielmehr in seinen formalen Verfremdungen des Sprachmaterials liegen.
Hierin jedoch riskiert die Studie zugleich, ihren Gegenstand in seiner Entgrenzung überzustrapazieren. So stellt der Verfasser zum Beispiel in seiner Analyse von Leif Randts Schimmernder Dunst über Coby County zwar explizit und Einwände vorwegnehmend heraus, dass der Roman sowohl seine kontrafaktischen Elemente als auch seine dystopischen und utopischen Weltbezüge permanent selbst absorbiere; in seiner Kategorisierung Randts als politisch affirmativ und seines Romans als Utopie mit möglicher dystopischer Lesart fällt Navratil jedoch tendenziell hinter seine Erkenntnis zurück. Zwar ist ihm darin zuzustimmen, dass der Roman die Entscheidung, ob er sich kritisch oder affirmativ zur Gegenwart des Kreativen Kapitalismus verhält, nicht beantwortet; ob er diese Frage allerdings überhaupt stellt und ob es tatsächlich eine Textstrategie ist, „den Leser letztlich immer auf sein eigenes politisches Weltbild“ zurückzuwerfen, ist zu bezweifeln. Vielmehr steht gerade die Literatur Leif Randts für eine Gegenwartsliteratur, die literarische Appelle und hermeneutische Übertragungsangebote konsequent verabschiedet. Eine kontrafaktisch-politische Lektüre muss hier alle kontrafaktischen und politischen Elemente so stark relativieren, dass sie im Resultat dann auch wenig ertragreich ist.
Am Beispiel Leif Randts ließen sich statt der Ränder eher die Grenzen der Theorie des Kontrafaktischen umreißen, die eine Theorie ja bekanntlich weniger angreifbar als vielmehr plausibler machen. So gelingt es der Studie zwar nicht, Gegenwartstexte zu erfassen, die jeden symbolischen und sogar archivarischen Realitätsbezug aushebeln und damit jede politische Weltdeutung, auch die der Lesenden, am Text vorbeizielen lassen. Es gelingt ihr aber sehr wohl, die große Fülle an kontrafaktischen Referenzverfahren in derjenigen Gegenwartsliteratur analysierbar zu machen, die sich mit ganz verschiedenen Strategien auf Realität bezieht. Und das dürfte auch genug sein.
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