Alles, was geschieht, ist unumkehrbar
Gespräche über Verluste und Vergänglichkeit in Matthias Nawrats Roman „Der traurige Gast“
Von Jannick Griguhn
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEinmal die Zeit zurückdrehen. Einmal die Möglichkeit erhalten, Fehler der Vergangenheit zu beheben. Leider unmöglich und so bleiben nur die Erinnerungen an glücklichere Zeiten. Die Gegenwart ist trist. Zumindest für die Figuren des polnischstämmigen Autors Matthias Nawrat, dessen Familie nach Bamberg emigrierte, als er zehn Jahre alt war. Nawrat selbst ist kein unbeschriebenes Blatt der literarischen Szene. Die Werke des in Berlin lebenden Autors wurden u. a. schon mit dem Kelag-Preis (2012), dem Förderpreis des Adelbert-von-Chamisso-Preises (2013) und dem Förderpreis des Bremer Literaturpreises (2016) prämiert. Schon bald könnte eine weitere Auszeichnung folgen, denn Nawrats vierter Roman Der traurige Gast steht auf der Shortlist des diesjährigen Preises der Leipziger Buchmesse.
Drei Kapitel, die aus einer Vielzahl von Unterkapiteln bestehen, strukturieren die merkwürdigen und doch alltäglichen Begegnungen des Ich-Erzählers, der als Schriftsteller in Berlin tätig ist. Das erste Kapitel Die Architektin handelt maßgeblich von der aus Polen stammenden Architektin Dorota, die der Erzähler eigentlich aufsucht, um mit ihr über seine Wohnungsumgestaltung zu sprechen. Da sie niemals ihr Viertel Schöneberg verlässt, ist der Erzähler gezwungen, sie mehrmals in ihrer Wohnung zu besuchen. Die Gespräche zwischen den beiden Figuren entwickeln sich schnell zu Monologen der Architektin, in denen sie über ihre Liebschaften, ihre Kindheit in Polen zu Zeiten des Kalten Krieges oder die Geschichte von Gebäuden und Orten reflektiert.
Im zweiten Kapitel Die Stadt häufen sich zufällige Begegnungen. So macht der namenlose Erzähler bspw. Bekanntschaft mit dem Schauspieler und Weltenbummler Eli, der ihm von seiner einschneidendsten Lebenserfahrung berichtet, und trifft sich mit seinem ehemaligen Studienfreund Karsten, der nur oberflächlich ein erfülltes Leben führt. Das schweigsame Zuhören des Erzählers lädt die Gesprächspartner*innen dazu ein, sich zu öffnen und aus ihren Leben zu berichten. Oftmals geschieht dies auch zum Unmut des Erzählers, der teilweise unfreiwillig in Gesprächssituationen hineingerät und sich nicht aus ihnen lösen kann. Er lässt die niederschmetternden Geschichten über sich ergehen und fühlt sich paradoxerweise gleichzeitig zu den Menschen hingezogen.
So auch im dritten Kapitel Der Arzt, in dem der Erzähler bei einem Aushilfsjob in einer Tankstelle Dariusz kennenlernt, der sich für den Tod seines Sohnes verantwortlich macht und vor etlichen Jahren aufgrund seines Alkoholmissbrauchs die Approbation als Chirurg verloren hat. Als Dariusz einige Tage nicht zur Arbeit erscheint, beschließt der Erzähler, ihn in dessen Wohnung zu besuchen. Nawrat kreiert hier eine bedrückende Szenerie, die die Leser*innen mit einem mulmigen Magengefühl zurücklässt:
Er stemmte sich hoch, stieß sich vom Tisch ab und machte einen Schritt auf Arbeitsplatte und Spüle zu. Seine Hand griff in die offen stehende Besteckschublade, in der die Messer klirrten, aber bevor ich überhaupt reagieren konnte, polterte es metallisch – er war über einen der Töpfe gestürzt und riss im Fallen die Schublade mit sich, sodass ihr Inhalt sich scheppernd über ihm ausleerte. Arschloch, wimmerte er dort auf dem Boden, schniefte. Dann drehte er sich auf alle viere. Ein Speichelfaden lief ihm aus dem Mund auf seinen linken Handrücken.
Der Umgang mit dem Verlust von Angehörigen und dem eigenen Tod ist ein zentrales Motiv des Romans, das die fragmentarischen Unterkapitel zusammenhält. Ein weiteres zentrales Motiv bilden Gebäude, Plätze und Landschaften, die einerseits Träger von persönlichen Erinnerungen sind und andererseits Zeugnis von ganzen Menschheitsepochen geben. Gleichzeitig unterliegen sie dem steten Wandel der Zeit, der droht, die Erinnerungen nach und nach unumkehrbar zu verschütten. In Der traurige Gast werden diese Erinnerungen zutage gefördert und zu neuem Leben erweckt. Beispielsweise wird der Ich-Erzähler durch das Betreten eines kleinen, polnischen Lebensmittelgeschäfts in Sassnitz in seine Kindheit in Polen zurückversetzt, zu deren Zeit die Regale der Geschäfte leer waren. Das Gebäude verwandelt sich in eine Zeitmaschine oder in ein „Zukunftsgebäude aus den 60er Jahren“, wie es der Erzähler betitelt:
Die Zeit, so dachte ich in diesem Augenblick, ist zirkulär, faltet sich, wenn ich will, über sich selbst, sodass mein jetziges Leben in Berührung kommt mit dem schon vergangenen und gleichzeitig die Unendlichkeit in Berührung kommt mit ihrer eigenen Unmöglichkeit, während wir auf diesem Planeten, in dieser Stadt, in diesem Weltjetzt durchs Weltall fliegen.
Diese Episode ist eine der wenigen, in denen die Leser*innen tiefer gehende Einblicke in die Gedankenwelt des Erzählers erhalten, der sich weitestgehend zurückhält und die Gesprächsverläufe spärlich kommentiert. Er lässt den Figuren den nötigen Raum, um ihre berührenden Geschichten zu erzählen. Jeder Figur verleiht Nawrat eine eigene Stimme, wobei sich durchweg ein parataktischer Schreibstil abzeichnet, der durch zahlreiche Einschübe angereichert wird. Während die Reflexionen der Figuren sprachlich durchaus komplex gehalten sind, erhalten ihre erzählerischen Passagen eine umgangssprachliche Färbung, die bis ins Dialektale reicht. Die Romanfiguren unterscheiden sich dabei weniger durch das Erzählte selbst voneinander als vielmehr durch die emotionale Relation zum Erzählten, aus der deren defätistische oder optimistische Lebenseinstellung hervorgeht.
Der traurige Gast ist zweifellos ein passender Titel für diesen Roman, dessen Fluch und Segen er widerspiegelt. Der Autor verfolgt zwar konsequent einen naturalistischen Schreibstil, den er auch umzusetzen weiß, aber oftmals stellt sich während des Lesens Widerwillen ein, den auch der Erzähler bei sich verspürt: „Ich spürte plötzlich eine Gegenwehr in mir. Ich wollte das alles gar nicht wissen. Aber sie schien es nicht zu bemerken.“ Dass Nawrat diesen Effekt bewusst erzeugen will, ändert kaum etwas daran, dass einige Unterkapitel und Gesprächsteile zu wenig Eindruck hinterlassen und vergessen sind, sobald das nächste Unterkapitel folgt.
Gerade das erste Kapitel bereitet aufgrund der ausschweifenden, tief ins Privatleben reichenden Ausführungen der Architektin Probleme, überhaupt einen Spannungsbogen aufzubauen. Gleichwohl enthalten ihre Schilderungen teilweise messerscharfe Analysen. Beispielsweise als sie den Pragmatismus der Menschen anprangert, der sich darin zeigt, dass sie nach Grausamkeiten wie Kriegen und Massenmorden weiterleben, als seien solche Gräuel bloß Gespenster einer längst vergangenen Zeit. Dass diese Gespenster jedoch weiterhin ihr Unwesen treiben und eine Eskalation des Hasses auszubrechen droht, wird an vielen Stellen des Romans von den Figuren reflektiert.
Nach dem Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt im Winter 2016, der unweit von der Wohnung des Erzählers verübt wurde, befindet sich eben jener in einem Schockzustand. Kurzzeitig wird seine gesamte Umgebung zu einer potenziellen Gefahrenquelle, weshalb der Erzähler es sogar vermeidet, seine Wohnung zu verlassen. Angst, Verzweiflung, Misstrauen liegen in der Luft und breiten sich in Deutschland aus: „Als ich durch die belebte Hauptstraße unseres Viertels ging, traten vor mir zwei Männer aus einem Hauseingang. Ich ertappte mich, während ich auf sie zukam, dabei, dass ich, weil sie dunkelhäutig waren und miteinander Arabisch sprachen, meinen Schritt beschleunigte.“
Betrachtet man den Gesamtzusammenhang des Romans, fügen sich auch die langatmigen Passagen ein, die dennoch kürzer hätten ausfallen können. Nawrat gelingen in diesem Werk zwar nicht durchgehend, doch größtenteils spannende, kurze Erzähleinheiten, die zum Nachdenken über die eigenen Lebensentscheidungen anregen. Dabei stellt er den Schmerz von Verlusten, seien es der Verlust von Heimat oder von geliebten Menschen, glaubwürdig dar. Die größte Leistung des Romans ist es jedoch, dass er den Lesern und Leserinnen vor Augen führt, dass sich aus der Sterblichkeit des Menschen ableitet, dass jeder Moment des Existierens als wertvoll zu erachten ist. So bleibt nichts mehr zu sagen, außer: Danke, dass wir zu Gast sein dürfen.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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