Zwischenfälle on the road

Matthias Nawrats „Reise nach Maine“ bietet eine unterhaltsame Reiselektüre

Von Johann HolznerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johann Holzner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Diese Reise steht von Anfang an nicht gerade unter einem guten Stern: Der Zug, der den Erzähler, einen noch relativ jungen Schriftsteller, von Berlin zum Flughafen Frankfurt am Main bringen soll, bleibt bereits kurz vor Göttingen gefühlt ewig stehen, aus welchem Grund auch immer; für den Erzähler ist der Anlass unzweifelhaft: ein Suizid. Somit ist es in seinen Augen auch schon frühzeitig ausgemacht, dass die geplante Reise nach New York und weiter nach Maine ebenfalls nur auf ein schlimmes, womöglich das denkbar schlimmste Ende zulaufen kann, nämlich auf „das Ende meiner Lebenserzählung“. Ganz so arg wird es dann zwar nicht, aber auf jeden Fall misslich genug. 

Denn die Mutter dieses Ich-Erzählers – sie stammt aus Polen, lebt aber schon lange in Bamberg –, die eigentlich nur die Reise nach New York mitgebucht hat, entschließt sich, ihren Sohn auch weiter nach Maine zu begleiten. Beizeiten mischt sich also Wut in die Vorfreude.

So gern ich meine Mutter hatte – ich liebte sie ja, sie war ja meine Mutter –, hatte ich mich doch darauf gefreut, allein von Ort zu Ort zu fahren, bis hinauf zu den geisterhaften Ortschaften an der Küste von Maine.

Mit Mutter on the road, bei aller Liebe, hätte er das nur geahnt, dann hätte der Erzähler definitiv noch rechtzeitig umdisponiert. Weiß er doch, was ihm unterwegs nun blüht: Belehrungen, Ermahnungen, Standpauken. Obenauf die Predigt, endlich einen soliden Beruf ins Auge zu fassen und rechtzeitig an die Rente zu denken – also die Literatur an den Nagel zu hängen. 

Letzteres ist ihm allerdings ebenfalls schon durch den Kopf gegangen. Denn mit dem Vorsatz, anspruchsvolle Literatur zu schreiben, ist er nach seiner eigenen Einschätzung nicht allzu weit gekommen; der erhoffte Erfolg ist ausgeblieben, und er muss sich selber sagen: „Leider kann ich nicht so schreiben, dass sich eine Vielzahl von Menschen davon unterhalten fühlen würde.“ – Der Verdacht drängt sich indessen auf, dass er es jetzt doch noch einmal, ein letztes Mal versucht … eben mit dem Bericht über seine Reise nach Maine. 

Die erste Station der Reise, New York City, bietet Gelegenheiten genug, über den Organismus der Großstadt und ihre Sehenswürdigkeiten zu informieren. Auch wenn der Urlaub eher unglücklich beginnt, denn die Mutter muss nach einem Sturz ins Krankenhaus, steht doch der Stadtbesichtigung und einer Begegnung mit einem alten Freund unseres Erzählers, der ebenfalls schreibt und überdies aus dem Deutschen ins Hebräische übersetzt, wiederum nicht sonderlich erfolgreich, nichts im Wege. Nur schon bald zeichnet sich ab, dass der Erzähler gut daran getan hat, früh aus den pittoresken Ortschaften Süddeutschlands, aus der Bemutterung zu flüchten und sich in einem Plattenbau in Berlin neu einzurichten; die Fürsorglichkeit der Mutter wird anstrengender von Tag zu Tag.

Im zweiten Teil, der endlich über die Reise nach Camden, in eine nicht sonderlich sehenswerte, aber auch keineswegs geisterhafte Kleinstadt im Osten des Knox Countys, Auskunft gibt, über die Landschaften, die Motels, die Menschen, die unterwegs auftauchen und schnell wieder entschwinden, werden die Reibereien zwischen Mutter und Sohn heftiger. Wiederholt droht der schwelende Konflikt zu eskalieren, obgleich beide versuchen, der Sohn noch weit mehr als seine Mutter, dem Streit aus dem Weg zu gehen; dabei geht es, summa summarum, eigentlich um nichts und wieder nichts. Oder doch: um den fehlenden Respekt vor den Illusionen und Bedürfnissen des jeweils Anderen? Jedenfalls: um das Unvermögen beider Figuren, aus den gewohnten Ritualen auszubrechen. – Das dramatische Finale, das sich hin und wieder abzeichnet, bleibt aus.

Eine unterhaltsame Reiselektüre, trotz allem. Matthias Nawrat, geboren 1979 in Opole, 1989 mit der Familie nach Deutschland übergesiedelt, der seit seinem Debütroman Wir zwei allein (2012) schon etliche Auszeichnungen erhalten hat, zuletzt den Literaturpreis der Europäischen Union 2020, dürfte seine Leserschaft auch mit diesem Roman nicht enttäuschen. Ein unnachgiebigeres Lektorat hätte allerdings hin und wieder doch in die eine oder andere Formulierung eingreifen können: einmal ist’s ein Tempuswechsel, der unmotiviert einschlägt, einmal ein Bild, das schief hängt, einmal ein Vergleich, der überflüssig wirkt: „Unsere Spiegelbilder in den Schaufenstern, an denen wir vorbeikamen, waren seltsam verzerrt, sie bogen sich wie Dalís schmelzende Uhren.“

Dass die Figuren, die sich mit dem Erzähler und mit seiner Mutter unterhalten, nur leicht verständliche Floskeln in ihrer Muttersprache verwenden dürfen, à la ‚oh no‘, ‚exactly‘ oder ‚excuse me‘, während sie ansonsten fließend Deutsch sprechen, fällt schon mehr ins Gewicht. Dass schließlich so manches Klischee stehen geblieben ist, stört jedoch am meisten. Es ist zwar die Rede einer Randfigur, aber ihr wird an keiner Stelle widersprochen: dass man sich in N. Y. C. mehr als irgendwo sonst auf dieser Welt permanent „auf Oberflächlichkeiten zurückverwiesen“ sehe. – Ein Hauch von Ironie, der vielleicht doch über allem schwebt, ist derart schwach ausgeprägt, dass er über weite Strecken ganz verfliegt und es somit gemeinhin schwerfällt, ihn immer, in jeder Passage wahrzunehmen; und zu Selbstironie neigt der Erzähler so gut wie nie.

Titelbild

Matthias Nawrat: Reise nach Maine.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2021.
218 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783498002312

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