Eugenisch killender Jammerlappen

In Francis Neniks Roman „E. oder Die Insel“ spricht ein Täter über die NS-Kinder-‚Euthanasie‘

Von Kai SammetRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Sammet

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auch wenn die nationalsozialistischen ‚Euthanasie‘-Verbrechen immer noch zu wenig öffentlich bekannt sind, gibt es inzwischen einige Versuche, mit den Mitteln der Fiktion der Tötung psychisch Kranker und geistig Behinderter näher zu kommen. Erwähnt seien nur Steve Sem-Sandbergs Die Erwählten (2015), Ellen Sandbergs Die Vergessenen (2018), Barbara Zoekes Die Stunde der Spezialisten (2017), Helga Schuberts Die Welt da drinnen: eine deutsche Nervenklinik und der Wahn vom „unwerten Leben“ (2003), Robers Domes´ Nebel im August (2008), Ellisabeth Zöllers Anton oder die Zeit unwerten Lebens (2004) sowie Morio Kitas In Nacht und Nebel (2013) – Bücher, in unterschiedlichen Genres unterwegs (vom Jugendbuch bis zum Kriminalroman) und mit unterschiedlichen Mischungsverhältnissen von Dokumentation und Fiktionalisierung.

Nun hat Francis Nenik in seinem Roman E. oder die Insel den Versuch unternommen, aus der Innensicht eines Täters der sogenannten Kinder-Euthanasie zu erzählen.

Der Ich-Erzähler, Arzt, kommt aus seiner zerbombten Leipziger Klinik zurück in ein Dorf, wohin er und seine Familie, seine Frau Marie und die Kinder Carl, Irmchen und Paul evakuiert worden waren und wo sie seit längerem in einem Pfarrhaus lebten. Das Kriegsende naht, der Erzähler hat sich auf einer Insel gegenüber jenem Pfarrhaus versteckt und führt ein Tagebuch vom 14. bis 26. April 1945: seine Familie ist verschwunden, er selbst fürchtet, verhaftet zu werden.

 „Marie, wo bist du? Was haben sie mit dir und den Kindern gemacht?“ So beginnt dieser Roman, in dem Stück für Stück die Fassade des Verfolgten und Bedrohten wie auch des bloß liebenden Familienvaters zerbröckelt. Der Erzähler beschreibt seine Ehe, spricht vom Glück mit Marie (die aber insgesamt merkwürdig konturlos bleibt wie auch die Kinder). Kennengelernt hatten sie sich 1930, er las ihr selbstgeschriebene Gedichte vor – ja, der deutsche Arzt reimte gern, und auch einer der Hauptprotagonisten der Kinder-‚Euthanasie‘, Werner Catel, der hier als Chef des Ich-Erzählers auftaucht, hat neben medizinischen Werken Schöngeistiges zu verfassen gewusst. Aber vorbei mit den Gedichten: „Ein jedes hat seine Zeit, Marie, und dass wir uns kennengelernt haben, ist alles, was zählt. Weil es der Anfang war. Von uns und Carl und Irmchen und Paul … Und was ist schon die Schönheit eines Gedichts gegen das Glück der Familie.“

Klingt das sentimental und etwas schwülstig? Weinerlich? Das finde ich schon. Und das wird auch so bleiben, dieser „Abschiedsbrief“ (an Marie) ist nichts weiter als die Rechtfertigungsarie eines eugenisch killenden Jammerlappens, einer biologistisch denkenden Heulsuse, die sich in ihren hehren Zielen missverstanden und verfolgt fühlt und zugleich – warum, dazu später – die Nazis nicht mag.

Unter der Woche ist der Protagonist in Leipzig, da ruft ihn „die Pflicht“, die darin besteht, Kinder zu untersuchen, nicht selten mit schmerzhaft-qualvollen Prozeduren wie der Pneumenzephalographie (einem Verfahren, bei dem die Hirn- und Rückenmarksflüssigkeit durch Luftfüllung ersetzt wird) und dann zu töten. Dort ist er also, auch wenn die Klinik zerbombt ist, Catel sich in eine etwas kommodere Außenstelle davon gemacht hat, und, so scheint es, er, der Ich-Erzähler, als einziger die Stellung hält, nicht zuletzt deshalb, weil er „noch dieses“ eine „Kind begleiten“ muss. Begleiten: wie so oft, wird hier der euphemistische Jargon der LTI, der Lingua Tertii Imperii, benutzt wie ja schon das Wort „Euthanasie“ nichts mit einem „guten Tod“ zu tun hatte, sondern nichts anderes war als Mord.

Die Konstellation, die Nenik wählt, ist klug gewählt. Der Ich-Erzähler sitzt auf der Insel, beobachtet, wartet, sieht entfernt, was passiert oder erahnt es. Da ist zum Beispiel ein Tierarzt, den er kennt, bei dem man sich fragt, was der eigentlich in dem Gebäude, das immer verschlossen war, machte. Tötete er da Tiere (der Krematoriumsrauch): „Als wäre er ich. Nur in einer Halle. Und mit Tieren statt mit Menschen beschäftigt.“ Der Protagonist weiß also schon, was er tut, was er tat. Aber er fühlt sich bedroht und steigert sich in eine Opferrolle hinein, verkehrte Welt: „Vielleicht werden sie mich eines Tages hier finden, kniend, zwischen hüfthohem Gras und Gebüsch, den Kopf nach vorn gebeugt, auf meine Hinrichtung wartend.“ Bedroht fühlt er sich besonders von Retschky, dem Schulmeister des Dorfs, der aufgrund einer Polio-Erkrankung humpelt – ein „Krüppel“. Retschky versuchte Luise, jenes geistig retardierte Kind, das der Ich-Erzähler zur ‚Begleitung‘ zum Schluss in seine Fänge bekommt, in seine Schule aufzunehmen und dort auszubilden. Retschky, so ist sich der Erzähler sicher, „hat es von Anfang an nur auf mich abgesehen, das wird mir jetzt immer klarer“, Retschky „hat Luise nur benutzt. Was immer er getan hat, hat er nicht für sie, sondern nur für sich selber getan. Um sich daran zu erinnern, dass der Krüppel in ihm einen Weg kennt, um sich an seinem eigenen Schicksal zu rächen.“

Der Ich-Erzähler ist gegen die Nazis, er mag die SS nicht, er sah, welche Angst sie vor den amerikanischen Soldaten entwickelten: „In ihren Augen lag Angst. Zum ersten Mal nach so vielen Jahren ruchloser Gier.“ Gierig und karrieristisch, das sind die anderen, Catel zum Beispiel, während er, der Ich-Erzähler, nur „weiter meine Aufgabe erfüllen“ will. Er ist gegen die Nazis, weil er den Krieg verabscheut. Und warum? Weil das sein Projekt eines rassisch-eugenisch ‚aufgearteten‘ Deutschlands vermasselt: „Der Krieg ist ein großes Fressen, für jeden von uns.“ Aber vor allem:

Der Krieg selektiert auf widernatürliche Art! Er lässt die körperlich Schwachen und geistig Defekten zu Hause und tötet die Starken  und Gesunden im Feld. Er trägt Krankheiten und Seuchen ins Land und zersetzt den Geist der Soldaten. Er ist der größte Hemmschuh der menschlichen Evolution.

Denn:

Im Grunde ist es ganz einfach: Wer für die Aufartung seines Volkes eintritt, muss gegen den Krieg sein. Wenn aber der Krieg einmal begonnen hat, dann gibt es für den um die Erbgesundheit seines Volkes besorgten Mann nur noch zwei Optionen: Er kann alles dafür tun, dass der Krieg sobald als möglich endet und der Verlust an gesundem Erbgut nicht noch größer wird, als er bisher schon ist. Oder er versucht den Verlust aufzuwiegen und diejenigen zu erlösen, deren defekte Anlagen sonst drohen, das ohnehin schon geschwächte Land vollends in die Mangel zu nehmen. Wenn der Krieg einmal im Gange ist, kann der Arzt also nur noch das Ungleichgewicht bekämpfen, das durch das Abschlachten der besten Männer entsteht.

So ist das also: es ist im Grunde genau das, was ein nicht geringer Teil der Ärzteschaft schon während der Weimarer Republik in ähnlicher Form dachte. Aber war das wirklich ‚Idealismus‘ – oder war es nicht nur eine Form des verbrämten Ekels wie ihn auch der Protagonist kennt. Denn hatte er nicht früher mit „mongoloiden Idioten“ (eine jener damals häufig verwendeten völlig entwertenden Bezeichnung von Menschen mit einer Trisomie 21) da gesessen und einem weiteren Patienten mit Chorea Huntington, einer Erkrankung, die frühzeitig zu Demenz und körperlichem Verfall führt, hatte er ihnen nicht die Scheiße aus dem Gesicht wischen müssen, mit der sie sich beschmiert hatten? Nein, er muss die „Drecksarbeit“ machen, da sich der Karrierist Catel – und er ist nicht der einzige, der hier als opportunistisch oder karrieristisch beschrieben wird – davon gemacht hatte.

Und da kommt ihm Luise gerade recht. In seiner Ruinenklinik findet ein merkwürdiges Spiel statt. Als die Mutter ihm Luise bringt, guckt die ihn über die Schulter hinweg an und „da war mir plötzlich, als wäre Luise unser gemeinsames Kind“. Was hier ein wenig ins Sexuelle changiert, changiert noch weiter ins symbolisch Überhöhte, sei es christlich verschmockt oder gar noch etwas sexualisierter. Eines Tages sieht Luise Pferde, von denen sie fasziniert ist, sie hat nur Augen für die Pferde: „Und ich für sie.“ Luise bringt Leben in die Leipziger Ruinenklinik, und er selbst kann sich um sie kümmern. Luise hat einen epileptischen Anfall, er bringt sie vorsichtig in sein Zimmer, so als könnte er sie vor etwas beschützen, „vielleicht sogar vor sich selbst“. Und damit ist für den Protagonisten auch klar: „Die einzige Heilung, die es für Luise gab, war ihre Erlösung. Sie hat das gespürt und sich ihrem Schicksal gefügt.“ Luise selbst fasst Vertrauen, er ist ja der einzige Mensch, der sich um sie kümmert. Sie liegt vor ihm, hält seine Hand – und da

wusste ich, dass der Moment gekommen war. Also habe ich sie (…) ins Untersuchungszimmer geführt und ihr ein Fußbad gemacht. Luise hat vor Freude gequiekt, als sie die Beine ins Wasser getaucht hat, und während ich dabei war, alles vorzubereiten, habe ich sie immer wieder beobachtet. Wie sie da saß, auf dem Stuhl mit der hohen Lehne, die Beine im warmen Wasser und die Augen und die Gefäße geweitet – Dann habe ich ihr meine Hand hingehalten und sie hat mir ihre gereicht, als warte sie nur darauf, dass ich ihr einen Ring überstreife. Sie konnte nicht wissen, dass es nur ein Glasröhrchen ist.

Und was ist Luise da nun? Christus vor der Kreuzigung oder Verlobte? Das mag dahingestellt bleiben.

Meine wenigen Andeutungen sollten lediglich zeigen, dass Francis Nenik mit E. oder die Insel einen wichtigen Roman über das Innenleben eines Täters der nationalsozialistischen ‚Euthanasie‘-Verbrechen geschrieben hat.

Titelbild

Francis Nenik: E. oder Die Insel.
Verlag Voland & Quist, Berlin 2021.
300 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783863912413

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