Erfundene Wahrnehmung und wilde Semiosen

In „Irrläufe. Herta Müllers Poetik des Eigen-Sinns“ setzt sich Norbert Otto Eke kenntnisreich und einfühlsam mit den literarischen Wurzeln und Wegen der Nobelpreisträgerin auseinander

Von Marcus NeuertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcus Neuert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die vielleicht wichtigste rumäniendeutsche Stimme in der Literatur, mindestens jedoch die am häufigsten genannte und in den Diskursen um die Wechselwirkungen von Literatur und staatssozialistischer Diktatur am stärksten präsente ist die der Literaturnobelpreisträgerin von 2009: Herta Müller. Zahlreiche ihrer Poetikvorlesungen und Reden hat nun der Paderborner Literaturprofessor Norbert Otto Eke im Zusammenspiel mit ihren Prosa- und Lyrikwerken einer genauen Betrachtung unterworfen und mit Irrläufe. Herta Müllers Poetik des Eigen-Sinns ein erhellendes und zusammenfassendes Sekundärwerk geschaffen, welches zwar aufgrund seines akademischen Duktus‘ nicht immer ganz leicht zu lesen ist – es vermittelt jedoch der Forschung wie auch dem interessierten Laienpublikum zahlreiche Zugänge und Impulse, die man sich bisher sonst eher aus allen Himmelsrichtungen zusammenklauben musste.

Eke gliedert seine Untersuchung in zwei Hauptabteilungen: im ersten Teil Eigen / Sinn: Poetik arbeitet er die Essenzen der Müllerschen Poetik heraus, im zweiten namens Narrative Ordnungen: Chronotopografien der Repression widmet er sich der konkreten Umsetzung im erzählerischen und lyrischen Werk der Dichterin, stets gespiegelt an den Verhältnissen der menschlichen Existenz in der Lebenswirklichkeit autokratischer Verhältnisse.

Von Anfang an wird deutlich, wie sehr Herta Müllers literarisches Sprechen vom Erinnern und dessen ästhetischer Transformation lebt, der „erfundenen Wahrnehmung“, den „wilden Semiosen“. Wie Eke Aleida Assmann zitiert, „[können] die aus dem Ordnungsgefüge konventioneller Beziehungen entlassenen Zeichen […] neue, unerwartete Beziehungen eingehen“. So eröffnen sich ungeahnte Möglichkeiten zu Subversion und Innovation des Schreibens wie auch des Lesens. Als sprechendes Beispiel hierfür sei aus Herta Müllers Collagengedicht Wer hat den Vagabundenhund erfunden aus dem Band Die blassen Herren mit den Mokkatassen von 2005 zitiert:

dass ich Wörtern die / es nicht mehr gibt den Mund / abkauf dass ich ihren ganzen / Schädel dabei krieg mit dem Geweih aus Vogelknochen 

So entstehen poetische Irrläufe, „Wirbel von Bildern und Begriffen, […] Drehungen, Strömungen ‚im Teufelskreis der Wörter‘ (wie es in ihrer Nobelpreisrede heißt).“ Die immer wiederkehrenden Sprachspiele mit unterschiedlich deutbaren Metaphern und Metonymien schaffen beim Lesen den Eindruck von beklemmender Seltsamkeit, die jedoch auch in „Irrläufe des Lachens“, in „Wirbel ins Nichtgesagte hinein“ münden können, also weder verzweifelte Ironie noch die interpretatorische Leerstelle aussparen.

Hier offenbart sich, am Rande bemerkt, auch die privilegierte Stellung der Kunst in Bezug auf den Umgang mit Wirklichkeit. Nur Literatur und Satire dürfen sich als „sprachlich inszenierte Kunstwelten einer Nach-Schrift von Erfahrung als Form- und Formierungs-Kunst“ verstehen, eben als jene schon genannte „erfundene Wahrnehmung“, welche „sich im Rückblick wahrnimmt“, wie Eke Herta Müller zitiert. Geschieht das Gleiche in der Politik oder gar in der Geschichtsschreibung, so ist die Grenze zu Fake News bzw. Klitterung schnell überschritten. In der Literatur, und besonders in derjenigen Herta Müllers hingegen handelt es sich um „ästhetische Setzungen“, wie Eke es formuliert, die aus der Wirklichkeit durch den Vorgang des Schreibens und qua Medium Buch eine Transformation erschaffen, die der Essenz des Wirklichen eine größere Authentizität verleiht, im rückblickenden Wieder-Erleben also sogar wirklicher als die Wirklichkeit ist: „Die Wahrheit der geschriebenen Erinnerung muss erfunden werden“, sagt Herta Müller.

Eke beleuchtet darüber hinaus auch Müllers Verhältnis zu Musik und Liedtexten, ordnet ihre Affinität zur rumänischen Folklore ein, die Müller schon im Ansatz für inkompatibel mit jeglichem autokratischem Regime hält und geht sehr konkret „auf die Frage der Erzählbarkeit von Diktaturerfahrungen“ ein, die ja für die Texte der Dichterin von kaum überschätzbarer Relevanz ist. Thematisierungen von „Entzeitlichung“ und „Entortung“ erfolgen, die Kontextualisierung von Stadt und Land bzw. „eines [F]eststecken[s] im präsentischen Jetzt eines Chronos ohne Kairos“ in Bezug auf die Machtstrukturen. An zahlreichen eingeschobenen Textpassagen der Autorin spiegelt Eke deren literarische Grund- und Feingliederungen an den von ihm herauspräparierten Erkenntnissen wider:

Entzeitlichung und Entortung sind Dreh- und Angelpunkte der chronotopischen Ordnung, durch die hindurch Herta Müller die vom Un-Glück durchherrschte Lebenswelt der Diktatur entfaltet.

Die Angst, die Bedingungen ihrer Entstehung und ihre Manifestationen als Machtmittel, spielt hierbei eine besondere Rolle. Frauen sind unter diesen Umständen die Doppelverlierer, unterliegen sie doch gleichzeitig „der Herrschaft des totalitären Staates“ wie auch derjenigen der „patriarchalischen Gesellschaftsordnung“. Dem Verhältnis zwischen Angst, Tradition und Intimität widmet Eke ein eigenes Kapitel im zweiten Teil, Körper und Begehren, in welchem er vielen von Müllers Protagonisten „die Praxis einer lieblosen Erotik bei gleichzeitig ausgeprägter Promiskuität“ bescheinigt. Der Staat ist, Furcht und Unsicherheit repräsentierend, allgegenwärtig bis in die sexuellen Beziehungen hinein.

Was Herta Müller antreibe, sei „die Idee einer unteilbaren Fürsorglichkeit und Zärtlichkeit als utopisches Merkzeichen eines erst noch zu erreichenden Zustands universaler Mitmenschlichkeit“. Trotz aller real existierender Widrigkeiten bleibe dieses teleologische Endziel „ein unverhandelbarer Rest, von dem her Kunst und Literatur als ethische Praxis ihre Rechtfertigung beziehen.“

Positiv anzumerken ist abschließend auch, dass im Gegensatz zu den meisten Würdigungen des poetischen Schaffens von Herta Müller bei Eke stets auch das lyrisch-bildnerische Werk der Dichterin im Fokus der Betrachtung steht. Allzu oft wurde in der Vergangenheit, zumal von kommerziell interessierter Seite, der sich auch die Literaturkritik häufig nicht ganz entziehen kann, in erster Linie auf die Bedeutung von Müllers Romanen hingewiesen und folgerichtig auch die Müllersche Poetik eher einseitig unter diesem Aspekt untersucht. Eke belegt eindrucksvoll, dass die vermeintlich randständigen Gedichtcollagen Herta Müllers untrennbar mit ihrem poetischen Duktus und den zugrundeliegenden Schaffensprozessen verbunden sind.

Titelbild

Norbert Otto Eke: Irrläufe. Herta Müllers Poetik des Eigen-Sinns.
edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag, München 2024.
238 Seiten , 32,00 EUR.
ISBN-13: 9783689300104

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