Keine normale Geburtsklinik mit Mütterheim im Ruppiner Land
Referenzwerk von Dorothee Neumaier zur Geschichte des Lebensborn-Heimes „Kurmark“
Von Dirk Kaesler
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie Beschäftigung mit dem Thema „Lebensborn“ scheint eine eigentümliche Eigenlogik zu haben: Sie führt von einer Etappe der Beschäftigung mit dieser Organisation zur nächsten. Im Jahr 2017 hatte die Historikerin Dorothee Neumaier mit ihrer Dissertationsschrift an der FernUniversität in Hagen eine umfangreiche Monografie über das Lebensbornheim „Schwarzwald“ in Nordrach im Schwarzwald vorgelegt.
Nachdem Heinrich Himmler, Reichsführer der SS und Chef der Deutschen Polizei, den Befehl gegeben hatte, auch im Südwesten des Reiches ein Lebensbornheim einzurichten, wurde dieses am 1. November 1942 eröffnet. In ihrer umfangreichen Studie rekonstruierte Neumaier die Alltagsgeschichte des Heimes „Schwarzwald“. Gleichzeitig wurden die in Nordrach angestellten Ärzte und Ärztinnen, die Oberschwester, die Hebamme und der Verwalter mit ihren ermittelten biografischen Daten vorgestellt. Die im Rahmen dieser Untersuchung erstellten Geburten- und Sozialstatistiken der Jahre 1942 bis 1945 informierten über die Geschlechterverhältnisse der Säuglinge sowie über Alter, Familienstand und Beruf der Mütter. Im Anschluss an die Ergebnisse wurde die Erinnerungskultur aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet. Lebensgeschichtliche Berichte von Lebensbornmüttern und Lebensbornkindern wurden anhand von Fallbeispielen dargestellt. Ergänzend wurden im Anhang auch Zeitzeugeninterviews mit ehemaligen Angestellten des Heimes „Schwarzwald“ aufgeführt. Es ist eine mustergültige, erschöpfende wissenschaftliche Arbeit zum selbstgestellten Thema.
Wer glaubt, dass es damit für Neumaier sein Bewenden hatte, irrt. Die hier vorzustellende Neuerscheinung über das Lebensbornheim „Kurmark“ in Klosterheide, einem Ortsteil der Gemeinde Lindow (Mark) im Landkreis Ostprignitz-Ruppin im heutigen Bundesland Brandenburg, ist keine einfache Fortsetzung der vorgenannten Publikation.
Das im Jahr 2024 erschienene Buch liefert bereits mit seiner „Einleitung“ die kompetenteste und aktuelle Übersicht über das wissenschaftliche und literarische Schrifttum zum Thema „Lebensborn“, das seit Ersterscheinung der unverändert als „Standardwerk“ einzuordnenden Studie von Georg Lilienthal (EA 1985) über den Verein „Lebensborn e.V.“ publiziert wurde. Neumaier geht damit weit über das hinaus, was dieser Rezensent noch im April 2023 selbst als Stand der Literatur zum Thema „Lebensborn“ erfasste. (siehe https://literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=29652)
Auf knappen vierzig Seiten dokumentiert die Autorin nicht nur das derzeit mögliche, gesicherte Grundwissen über diesen SS-Verein, der im Dezember 1935 von Heinrich Himmler für die Betreuung „rassisch und erbbiologisch wertvoller, werdender Mütter“ und ihrer Kinder gegründet wurde. Ihr Forschungsimpuls lautet: „Es bleibt festzuhalten, dass der Forschungsstand zum Heim ,Kurmark‘ defizitär ist.“ Basierend auf der Methode der empirischen Quellenrecherche analysiert Neumaier alle zugänglichen Archivalien über dieses Heim, insbesondere basierend auf den digitalisierten Archivbeständen der „Arolsen Archives“ in Bad Arolsen, dem „International Center on Nazi Persecution“, hervorgegangen aus dem „International Tracing Service“ (ITS). Hinzu kam eine Mehrzahl von Archivbeständen, insbesondere die SS-Akten des ehemaligen „Berlin Document Center“ und die „Z-Akten“ des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR, sowie zahlreiche weitere lokale Archivbestände.
Die Autorin beschreibt ihr Erkenntnisinteresse folgendermaßen:
In dieser Studie wird die Historie des Lebensbornheimes „Kurmark“ mithilfe eines mikrogeschichtlichen und biografischen Ansatzes untersucht. Die Darstellung erfolgt dabei, soweit es inhaltlich geeignet scheint, chronologisch. Neben der weltanschaulichen und medizinischen Betreuung sollen funktionale Handlungsabläufe sowie besondere Vorkommnisse abgebildet und somit eine möglichst umfassende Darstellung des alltäglichen Lebens entworfen werden – soweit der gerade mit zunehmender Kriegsdauer immer sporadischer werdende Archivbestand es zulässt.
Dieser selbstgewählten Aufgabenstellung ist die Autorin in vorbildlicher Weise nachgekommen. Nach einer plastischen Beschreibung der Gebäude, Liegenschaft und Einrichtung dieses Heimes wird das Personal ausführlich vorgestellt (Oberschwestern, Verwalter, Fahrer, Hausmeister, Sekretärinnen, Schwestern und Hebammen). Die Arbeits- und Lebensbedingungen im Heim werden umfassend rekonstruiert, sodann werden die Ärztinnen und Ärzte individuell durch detaillierte Aufstellungen ihrer akademischen und beruflichen Werdegänge vorgestellt. Diese insgesamt sechs Personen liefern die entscheidende Gliederung der Arbeit, die sich in die jeweiligen Dienstzeiten aufteilt. Dass sich die Abschnitte über die Entnazifizierungsverfahren von zwei dieser Ärzte anschließen, erscheint nur folgerichtig. Das letzte Kapitel des Buches bilden die biographischen Schilderungen der Lebensschicksale von zwei Menschen, die in diesem Heim geboren wurden.
Das umfangreiche Buch kann in seinen überaus detaillierten Ausführungen nicht eingehend vorgestellt werden. Die mehr als 600 Seiten zwischen „Einleitung“ und „Zusammenfassung“ lesen sich einerseits wie eine Parodie auf deutsche bürokratische Gepflogenheiten, andererseits dokumentieren sie schlimmste menschenrechtliche Vergehen. Denkbar banal wird davon berichtet, dass der Verwalter einmal pro Monat die ordnungsgemäße Instandhaltung der Feuerlöschgeräte und Sirenen durchzuführen, einen Vortrag über den Gebrauch der Feuerlöschgeräte abzuhalten und darüber „Vollzugsmeldung“ zu erstatten habe. Grotesk erscheint es, wenn das Gesuch einer Mutter um Ausbildung als Hebamme zurückgeschickt und nicht bearbeitet wird, weil sie ihren Brief „Mit deutschem Gruß“ anstatt mit „Heil Hitler“ unterzeichnet hatte. Dann aber dokumentieren die Ausführungen über „Zwangssterilisationen“, die die SS-Ärzte ausführten, und die diversen „Beschwerdefälle“ derart schreckliche Praktiken – wenn etwa ein Kind, das „nicht unserer Auslese entspricht“, baldigst aus dem Heim genommen werden muss und in Einzelfällen ermordet wird –, sodass es nicht leichtfällt weiterzulesen. Das Verblüffende bei all diesen teilweise grotesken und teilweise erschütternden Berichten ist die Tatsache, dass noch der kleinste „Vorfall“ nicht nur an Gregor Ebner, den obersten ärztlichen Leiter aller „Lebensborn“-Einrichtungen, gemeldet wurde, sondern eine Vielzahl von Fällen direkt an Himmler ging, der sich schriftlich dazu meldete, in Einzelfällen sogar persönlich vor Ort darum kümmerte, so etwa, wenn es um eines seiner „Patenkinder“ ging, das an seinem Geburtstag – 7. Oktober – geboren worden war.
Um zu verstehen, zu welcher Praxis das führte, muss darauf hingewiesen werden, dass die SS ein Verständnis für sich reklamierte, wie es Himmler in einer Rede von 1937 so charakterisierte:
Die SS ist ein soldatischer, nationalsozialistischer Orden nordisch bestimmter Männer und eine geschworene Gemeinschaft ihrer Sippen. […] Die Braut, die Frau gehört bei uns gemäß unseren Gesetzen ebenso dieser Gemeinschaft, diesem Orden der SS an wie der Mann. […] Seien wir uns doch klar darüber: Es wäre sinnlos, gutes Blut aus ganz Deutschland zusammenzuholen und dieses gute Blut in einem Gedanken wohlweislich hinzustellen, um es aber auf der anderen Seite heiraten und in Familien gehen zu lassen, wie es will. Sondern wir wollen für Deutschland eine auf Jahrhunderte hinaus immer wieder ausgelesene Oberschicht, einen neuen Adel, der sich immer wieder aus den besten Söhnen und Töchtern unseres Volkes ergänzt, schaffen, einen Adel, der niemals alt wird, der in der Tradition und der Vergangenheit, soweit sie wertvoll ist, bis in die grausten Jahrhunderte zurückgeht, und der für unser Volk ewig eine Jugend darstellt.
Wer als ehemaliger Absolvent des Studiums der Landwirtschaft an der TU München und zwischenzeitlicher Geflügelhalter seine züchterischen Wahnideen in derartige Bahnen lenkte, verstand sich ganz offensichtlich als väterlicher Herrscher seiner Sippengemeinschaft, der sich um wirklich alles zu kümmern hat. Und dies dann auch in die Praxis umsetzte.
In ihrer Zusammenfassung gelingt es der Autorin in klarer und systematischer Weise den wesentlichen Inhalt ihrer Arbeit und deren zentrale Ergebnisse zu rekapitulieren. Im Zeitraum von 1937, als das Heim „Kurmark“ als drittes Heim des „Lebensborn“ eröffnet wurde, bis 1945, als die Sozialversicherungsanstalt des Landes Brandenburg dort eine Lungenheilstätte weiterführte, wurden dort insgesamt mindestens 1.018 Kinder geboren. Gerade weil die von diesem SS-Verein angestrebte Geheimhaltungspraxis durch die eigene Standesamtsverwaltung und die systematische Vernichtung der Mehrzahl der Unterlagen insgesamt so „erfolgreich“ gewesen ist, wird dieses soeben erschienene Buch der Nachwuchswissenschaftlerin Dorothee Neumaier für die heute noch lebenden „Lebensborn“-Kinder und deren Nachkommen eine große Hilfe bei der Suche nach ihren Wurzeln sein. Allein die Rekonstruktion des „Falles“ des Mädchen T.S. („Sternchen“), geboren im November 1942, gestorben 1991, müsste genügen, um den verbrecherischen und menschenverachtenden Charakter dieser Organisation zu belegen. Die Rekonstruktion der Entnazifizierung mit Hilfe der Spruchkammerakten vermittelt sowohl ein erschütterndes Bild der Rechtfertigungsbemühungen der ehemaligen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen als auch die unsäglich „milde“ Bearbeitung durch die britische und amerikanische Militärregierung sowie durch die deutsche Nachkriegsjustiz.
Für die wissenschaftliche Erforschung dieses SS-Vereins, der heute noch zuweilen als rein karitative, philanthropische Einrichtung verharmlost wird, stellt diese hier anzuzeigende Arbeit deren ultimative Bearbeitung dar. Damit liegen nun für die Lebensborn-Heime „Schwarzwald“ und „Kurmark“ zwei Referenzarbeiten aus der Feder von Dorothee Neumaier vor.
So wie das Buch von Georg Lilienthal über den SS-Verein „Lebensborn“, die Arbeit von Peter Longerich über dessen Initiator und Herrscher Heinrich Himmler und die Arbeit von Rudolf Oswald über das Heim „Hochland“ in Steinhöring als wissenschaftlicher Goldstandard für ihre jeweiligen Themen zu gelten haben, so gilt das auch für dieses Buch für die wissenschaftliche Erforschung jenes Heimes „Kurmark“ in idyllischer, märkischer Landschaft in den Jahren 1937 bis 1945.
Erwähnte Literatur
Georg Lilienthal: Der „Lebensborn e.V.“. Ein Instrument nationalsozialistischer Rassenpolitik. [EA 1985] Erweiterte Neuausgabe. 2. Aufl. Frankfurt am Main: Fischer Verlag 2008. (= Fischer: Die Zeit des Nationalsozialismus; Bd. 15711)
Peter Longerich: Heinrich Himmler. Biographie. 6 Auflage. München: Siedler Verlag 2008.
Dorothee Neumaier: Das Lebensbornheim „Schwarzwald“ in Nordrach. Reihe: Geschichtswissenschaften, Bd. 32. Baden-Baden: Tectum Verlag (in der Nomos Verlagsgesellschaft) 2017 [Zugleich Dissertation FernUniversität Hagen 2017].
Rudolf Oswald: Den Opfern verpflichtet. Katholische Jugendfürsorge, Caritas und die SS-Organisation „Lebensborn“ nach 1945. München: Verlag Sankt Michaelsbund 2020.
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