Das Grauen nach dem Grauen

Sandra Newmans düsterer Science-Fiction-Roman „Ice Cream Star“ überzeugt in jeder Hinsicht

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Genre der Science-Fiction ist nicht eben für innovative Sprachexperimente bekannt. Werke, die über einige Neologismen zur Bezeichnungen zukünftiger technischer Erfindungen und dergleichen hinausgehen, sind eher rar gesät. Zu nennen wären etwa George Orwells Neusprech in 1984, Jack Vances auf der Sapir-Whorf-These beruhender Roman The Languages of Pao, Native Tounge der feministischen SF-Autorin Suzette Haden Elgin, in dem die unterdrückten Frauen eine den herrschenden Männern unverständliche Geheimsprache entwickeln, um ihre Befreiung voranzutreiben, oder die sich des generischen Femininums bedienende Imperial Radch-Trilogie (siehe hier und hier) von Ann Leckie.

Nun ist ein SF-Roman zu vermelden, der sie in dieser Hinsicht alle in den Schatten stellt: Sarah Newmans Ice Cream Star. Die Autorin hat ihren Roman ganz in einer fiktiven Zukunftssprache verfasst. Das funktioniert zunächst einmal deshalb, weil er aus der Sicht einer Ich-Erzählerin geschrieben ist, der titelstiftenden Ice Cream Star. Sie ist 15 Jahre alt und spricht in einem scheinbar restringierten Code, der aus dem Leben in einer postapokalyptischen Welt erwachsen ist, in der keine abstrakten Reflexionen gefragt sind, sondern die erste Sorge die des Überlebens ist.

Diese Sprache ist nicht nur von einer vereinfachenden, dem gesprochenen Wort nahestehenden Grammatik und entsprechenden Wortverschleifungen geprägt, sondern auch von Neologismen und Bedeutungsverschiebungen. Vor allem aber ist sie von einem faszinierenden Bilderreichtum, der nicht selten Gefühle beschreibt, etwa, wenn ein „Sengleherz“ sein „wölfisches Lügen grinst“, wobei „wölfisch“ positiv konnotiert ist. Auch hat Newmans Sprache einen slangartigen Charakter, der noch dadurch unterstrichen wird, dass die Menschen in weiter entfernten Orten einen anderen Dialekt sprechen. Die Brillanz, mit der Newman den Metaphernreichtum der von ihr erdachten Sprache handhabt, mag ein einziger kurzer Satz zum Leuchten bringen: „Der Tag ist schon alt, als ob er mich über hat.“

Zudem zeigt sich im Laufe der Lektüre, dass die Sprache sich sehr wohl dazu eignet, grundsätzliche Überlegungen anzustellen. Zum Beispiel wenn die Titelheldin in kurzen Sätzen über die Möglichkeit ihres eigenen Todes nachdenkt: „Wie kann es sein, dass Ice Cream nirgendwo mehr ist. Wird kein Ich mehr geben, das weiß, dass ich nich da bin.“ Manchmal sind ihre Reflexion auch komplexerer Natur: „Is ne Albernheit im Leben, wie wir im Schlaf unsere Leiden vergessen – als wärn sie da ungeschehen, zurückgenommen in die Zeiten davor. Wir wachen in dummer Unschuld auf. Dann blitzen die Leiden zur Erinnerung und jede Grausamkeit ist neu.“

Bewundernswert ist zudem, dass die Autorin eine Sprache geschaffen hat, in die man sich trotz all ihrer Fremdheit schnell einliest. An dieser Stelle ist auch die Leistung der Übersetzerin Milena Adam zu würdigen. Sie hat, soweit das nach einem Vergleich weniger Seiten zu beurteilen ist, eine gute Arbeit abgeliefert.

Ice Cream und die Ihren leben in den Wäldern Massachusetts in einer Welt farbiger Kinder und Jugendlicher. Denn vor etwa 80 Jahren löschte eine Pandemie alle hellhäutigen Menschen aus. Auch dies plausibilisiert die Sprache der Figuren, die Newman aus dem heutigen afro-amerikanischen Englisch entwickelt hat, wie sie in einem Interview sagte.

Die Farbigen haben die Pandemie zwar überlebt, doch auch sie erkranken seither im Alter von zumeist 18 oder 19 Jahren und sterben auf qualvolle Weise innerhalb weniger Monate.  Nur selten erreicht jemand das 20. Lebensjahr.

Die Jugendlichen – im Roman ist stets von „Kindern“ die Rede – haben sich in diversen clanartigen Gruppen unterschiedlicher technischer Entwicklung organisiert, die sich auf verschiedene Weise durchs Leben schlagen. Einige bilden stammesähnliche Gemeinschaften, andere haben religiöse oder militaristische Ortschaften gegründet, die allerdings nie mehr als einige hundert Menschen umfassen. Da wäre etwa die Nat Mass Armie, eine sexistische Gesellschaft, die auf Frauenraub basiert und Frauen nur als (Sex-)Sklavinnen hält. Die von Ackerbau und Viehzucht lebenden Christlinge wiederum „glauben an einen Gott, der an zwei Stöckern lebt“ und huldigen der Vielweiberei, wobei die Frauen den Mann aussuchen, mit dem sie leben wollen. Das führt offenbar dazu, dass einige wenige Männer ziemlich oft, andere gar nicht gewählt werden. Eine andere Gruppe, die Lowells, hausen in einem großen Gebäude einer Ruinenstadt und sind die technisch fitteste und wohl auch organisierteste Gruppe in Massa. Ice Cream selbst gehört den halbnomadisch lebenden Sengles an, die davon leben zu „lumpen“, das heißt, sie plündern seit der Pandemie leerstehende Häuser. Stoßen sie in einem dieser Häuser auf sogenannte „Schläfer“, also an der Epidemie verstorbene Tote, so zünden sie es an. Denn sie verstehen sich als „Säuberer der kränklichen Welt“. Da das Lumpen eher wenig einbringt und zudem offensichtlich eine Überlebensstrategie ist, die kaum über die Jahrhunderte tragen kann, gehen sie auch mit Pfeil und Bogen jagen. Trotz aller Unterschiede haben sämtliche Gruppen eines gemeinsam: An ihrer Spitze steht jeweils eine einzelne Person. Meist ein Mann.

Wie komplex die von Newman geschaffene Welt tatsächlich ist, schält sich erst im Laufe des zunehmend dramatischen Geschehens heraus. Besonders beeindruckend ist, dass sie dabei immer in sich stimmig bleibt. Lustig aber geht es in ihr nie zu. Entsprechend selten sind humoristische Stellen; Situationskomik etwa sucht man vergebens. Wenn einmal etwas auf die Lesenden amüsant wirkt, dann etwa Ice Creams Beschreibung des ihr fremden Glaubens der Christlinge.

Newman hat zahlreiche Figuren zum Leben erweckt, sympathische wie unsympathische, die ihrem Alter gemäß denken und handeln, also so wie Kinder und Jugendliche. Gehärtet allerdings durch das Leben in einer postapokalyptischen Welt, „in die kein gutes Kind gehört“. Sie alle sind in ihren Eigenheiten differenziert entwickelt. Nicht wenige besitzen einen vielschichtigen, ja widersprüchlichen Charakter und einige der Figuren bergen eine Überraschung. Bei manchen bleibt bis zuletzt unklar, was man von ihnen zu halten hat.

Die Ich-Erzählerin selbst ist alles andere als eine Superheldin. Jedenfalls nicht, was ihre Körperkräfte und ihre Kampfkünste betrifft. Aber sie hat ein „wertes Herz“, das sein Mitgefühl nie verliert, nicht für die eigenen Leute und auch nicht für leidende Feinde, mögen sie noch so niederträchtig sein. Ein Mitgefühl, das sich allerdings nicht immer als hilfreich erweist. Und auch sie bleibt nicht frei von Schuld.

Alles beginnt damit, dass die Sengles auf einen Rou treffen. Dieser hat eine „Babyplastikhaut“, ist also hellhäutig – und behauptet von sich, bereits 30 Jahre alt zu sein. Nicht unbedingt sonderlich glaubwürdig berichtet er von einem Mittel, das die Erkrankung heilen kann. Obwohl seine Angaben sehr widersprüchlich sind, macht sich Ice Cream auf die gefährliche Suche nach dem Medikament, um ihren erkrankten Bruder zu retten.

Sie wird sich nicht allein auf die lange Reise begeben. Ihr Clan schließt sich ihr an, ebenso die meisten Menschen der anderen Clans. Unterwegs gelangen sie zu der bigotten Gottesstadt Marias, deren Herrschende ebenso wenig an die von ihnen propagierte Religion glauben wie diejenigen aller Gottesstaaten vom Iran bis zum Vatikan, sondern nur ihre Privilegien und ihre Macht erhalten wollen. So sind Homosexualität und Abtreibungen zwar verboten, aber an der Tagesordnung. Hierzu werden Passagen aus einer reichlich veränderten Bibel nach Belieben zurechtgebogen. „Metaphern“, sagt sich Ice Cream einmal angesichts besonders waghalsiger Interpretationen, heißen, „dass die Geschichte jenseitig bescheuert is. Also tun sie, als ob es etwas anderes heißt, wie es ihnen am besten passt.“

Schließlich gelangt sie mit ihren Leuten nach Quantico, wo sich alles entscheiden wird. Da ist es gerade einmal drei oder vier Monate her, als die Sengles auf den Rou stießen. Eine Zeit, in der ihre Hoffnung wuchs, während sich die Welt zunehmend verdüsterte. Denn „die Zeit ist ein launiges Ding und geht jedem Wunsch zuwider“.

Trotz seiner jugendlichen ProtagonistInnen ist Ice Cream Star alles andere als ein Jugendroman. Originell ist vor allem seine sprachliche Form. Zudem ist es Newman gelungen, eine Welt voller unterschiedlich organisierter Gemeinschaften zu schaffen, die davon geprägt sind, dass sie nur von Kindern und Jugendlichen bevölkert werden. Sie allesamt sind plausibel entwickelt, auch in ihrem Zusammenwirken und durchaus nicht immer friedlichen Aufeinandertreffen. Dabei ist der Roman unterhaltsam und spannend, bietet eine „Liebesamour“ und eine „saubre, erbarmungslose Liebe“ sowie manche überraschende Wendung. All das und einiges mehr machen ihn geradezu zur Pflichtlektüre nicht nur für SF-Fans. Kaum zu glauben, dass die amerikanische Originalausgabe 2014 nicht mit Preisen überhäuft wurde. Doch muss auch eine Warnung ausgesprochen werden: Zarten Gemütern ist die Lektüre nicht zu empfehlen.

Titelbild

Sandra Newman: Ice Cream Star. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Milena Adam.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2019.
669 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783957577665

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