Die Zukunft ist weiblich

Mit „Die Maschinen“ und „Die Mission“ liegen die ersten beiden Bände von Ann Leckies bemerkenswerter „Imperial Radch“-Trilogie in deutscher Sprache vor

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Science-Fiction-Romane gelten im versnobten Teil des gehobeneren Bildungsbürgertums noch immer als Schundliteratur, die zu lesen bestenfalls reine Zeitverschwendung wäre. Dass auch renommierte AutorInnen in dem Genre reüssieren wie etwa Marlen Streeruwitz, Margarete Atwood oder die Literaturnobelpreisträgerin Doris Lessing wird dabei gerne übersehen. Hierzulande ließe sich etwa Julie Zeh nennen, deren Roman Corpus Delicti 2010 für den Kurd-Laßwitz-Preis, mithin für den bedeutendsten deutschen SF-Preis, nominiert werden sollte – und diese Nominierung ablehnt. Möglich, dass sie es nicht aus Geringschätzung für Science-Fiction tat, sondern andere Gründe hatte. Aufgewertet wurde das Genre jedenfalls zuletzt durch den mächtigsten Mann der Welt. Auf der vom Weißen Haus veröffentlichten Liste der fünf Bücher, die Barack Obama sich für den Sommer 2016 zur Lektüre auserkoren hat, findet sich auch Neal Stephensons SF-Roman Seveneves, dessen deutsche Übersetzung unter dem Titel Amalthea erschien. Andererseits gibt es natürlich, ebenso wie in jedem anderen Genre auch, zahllose SF-Publikationen, die das Holz der Bäume, die ihr Leben für sie lassen mussten, nicht wert sind.

Hier aber gilt es die ersten beiden Bände einer Trilogie anzuzeigen, bei denen es sich zwar nicht eben um Weltliteratur handelt, die jedoch zweifellos zu den lesenswerten Erzeugnissen des Genres zählen. Die Rede ist von Ann Leckies beiden Romanen Die Maschinen und Die Mission, wobei die Titel der deutschsprachigen Übersetzung wie so oft nichts mit denjenigen der Originalausgaben (Ancillery Justice und  Ancillery Sword) zu tun haben. Die Übersetzung der Romane selbst aber dürfte eine echte Herausforderung gewesen sein, denn Leckie hat „im englischen Original als generische Form ausschließlich weibliche Pronomen verwendet“, wie Bernhard Kempen, der sich der Aufgabe gestellt hat, im Vorwort erklärt. Damit hat Leckie selbst ein womöglich zukunftsträchtiges Experiment gewagt. Die Entscheidung für das generische Femininum hat sie keineswegs rein willkürlich oder aus einer etwaigen Neigung zur Extravaganz getroffen. Sie ist vielmehr in der Sache, also dem Roman mit seinen Figuren, den Gesellschaften, in denen sie leben und vor allem den Sprachen, deren sie sich bedienen, begründet. Denn in der Sprache der Radchaai, dem wichtigsten Volk des Romans und wohl auch dem mächtigsten des Handlungsuniversums, dem auch die Ich-Erzählerin – wenngleich als bloße ‚Maschine‘ – angehört, spielt das Geschlecht keine Rolle und wird demzufolge sprachlich „in keiner Weise markiert“. Nun ließ sich das weder im englischsprachigen Original noch in der deutschen Übersetzung wortgetreu umsetzen. Daher der Griff zum ungewohnten generischen Femininum, vergegenwärtigt es doch Zeile für Zeile den fremdartigen Charakter der Langue des Volkes der Radchaai. Kempen hat die Aufgabe, Leckies Entscheidung für das generische Femininum in der deutschen Sprache gerecht zu werden, nahezu kongenial bewältigt, auch wenn er aufgrund von deren Eigenheiten „ein bis zwei Schritte weiter als die englische Originalausgabe“ gehen musste. Nur sehr gelegentlich unterläuft ihm versehentlich ein generisches Maskulinum. So ist gleich auf den ersten Seiten davon die Rede, dass man im Radch-Imperium den „Arzt“ aufzusuchen pflegt, wenn man sterben möchte, damit dieser den Wunsch erfüllt. Im Sinne des generischen Femininums müsste jedoch eine „Ärztin“ aufgesucht werden.

Nun bleibt das Geschlecht nicht nur in der Sprache der Radchaai unmarkiert, die Geschlechtszugehörigkeit ist gesellschaftlich ohne jeden Belang. So fällt es den Radchaai denn auch nicht leicht, das Geschlecht ihres Gegenübers zu erkennen, wenn sie mit Angehörigen anderer humanoider Völker zu tun haben. Sie versuchen sich an der Kleidung zu orientieren, was sich allerdings keineswegs immer als sicherer Geschlechtsindikator erweist. Da die Sprachen der anderen Völker im Radch-Imperium das Geschlecht nun aber sehr wohl markieren, sind sie nicht selten unsicher, wie sie eine Person, die keine Radchaai ist, geschlechtlich adressieren sollen, was bei einem Missgriff schon einmal zu einer unbeabsichtigten Beleidigung führen kann.

All dies ist schon interessant genug. Stärker noch als Fragen hinsichtlich des Geschlechts wird jedoch auf die Romanen eigene literarische Weise die Frage thematisiert, was die Identität und Einheit eines Ich in der Zeit – und da es sich um Science-Fiction handelt, auch im Raum – ausmacht und gewährleistet, und welche Rolle der oder die Körper dieses Ich dabei spielen. So besitzt nicht nur Anaander Mianaai, die 3.000 Jahre alte Herrscherin über das Radch-Imperium, etliche tausend Körper, die „allesamt genetisch identisch, alle miteinander verlinkt“, aber von unterschiedlichem Alter sind.

Auch die Ich-Erzählerin besaß vor langer Zeit einmal zahlreiche Körper, wenn auch nicht alle biologischer Art. Als diese fungiert Eins Esk, das einzig erhaltene „Segment“ der Gerechtigkeit von Torren, eines großen Raumschiffes der „Truppentransporter“-Klasse mit vielköpfiger Besatzung, das vor etlichen Jahren bei einem Angriff zerstört wurde. Diese Segmente bestehen aus Fleisch und Blut, denn bei ihnen handelt es sich um die Körper von Menschen eroberter Planeten, die in jedem Raumschiff zu hunderttausenden sediert eingelagert sind. Werden die Körper benötigt, so werden sie wieder zum Leben erweckt. Zugleich werden ihre Bewusstseine ausgelöscht und sie werden dem Schiffsbewusstsein angegliedert. Der Titel der deutschen Ausgabe Die Maschinen ist also etwas irreführend.

Als die Gerechtigkeit von Torren noch existierte, waren alle ihre Segmente und die Zentrale des Schiffes durch eine dem Hive-Bewusstsein der Borg in den Star-Trek-Serien nicht unähnliche, gemeinsame Identität miteinander verbunden. Nun aber existiert Eins Esk respektive „Breq“, wie sie sich nun nennt, als Individuum.

Die Problematik der Identität des Ich in der Zeit wird literarisiert, indem die Ich-Erzählerin vor der Zerstörung des Schiffes „nicht ich, Eins Esk, sondern ich, die Gerechtigkeit von Torren“ war. Problematisch wird die Identität des Ich im Raum beispielsweise, wenn sieben Segmente der Gerechtigkeit von Torren auf einer Außenmission sind, wobei jedes der sieben Segmente den anderen bei ihren Tätigkeiten zusieht, das Schiff ihnen allen und hunderten weiteren, sie jedoch alle ein und dasselbe Bewusstsein haben. Dabei ist die Künstliche Intelligenz aber weder eine multiple Persönlichkeit noch sind die Außeneinheiten bloße Befehlsempfänger. Doch als die Kommunikation des Schiffes mit seinen gut 100 Segmenten durch Sabotage unterbrochen wird, hat jedes einzelne ein eigenes Ich-Bewusstsein. „Ab diesem Moment war ich zwanzig verschiedene Personen, mit zwanzig verschiedenen Beobachtungen und Erinnerungen“. Die Vielzahl der Segmente des Ich während seines Daseins als Raumschiff bedingt nicht nur, dass es sich oft selbst bei verschiedenen Tätigkeiten durch je andere Segmente erlebt, sondern auch, dass die Lesenden so dem Geschehen an verschiedenen Orten zugleich folgen. Dies literarisch umzusetzen, dürfte eine nicht eben einfach zu meisternde Aufgabe gewesen sein.

Das in Eins Esk erhaltene Fragment der KI des Raumschiffes hat den größten Teil des früheren Wissens der KI, ihres Erkenntnisvermögens und ihrer Wahrnehmungsfähigkeit eingebüßt. Nach der Zerstörung des Schiffes wird Esk „ein ich selbst, das nur ein Fragment dessen war, was ich vorher gewesen war“  und „‚ich‘ ein einzelner Körper […], ein einzelnes Gehirn“. Doch war „die Aufspaltung in ich, die Gerechtigkeit von Torren und ich, Eins Esk […] schon immer eine potentielle Möglichkeit gewesen“.

Umfangreiche Rückblenden in die Zeit vor der Zerstörung des Raumschiffes lassen den Unterschied zwischen beiden Bewusstseinsarten, der individuellen und der kollektiven, deutlich werden, wobei es der Ich-Erzählerin immer „sehr eindeutig vor[kommt], wenn ich ‚ich‘ sage“.

Gelegentlich räsoniert sie über die Problematik der Ich-Identität als allgegenwärtigem und allgemeinem Phänomen und fragt sich, ob „nicht jede Identität eigentlich aus Fragmenten [besteht], zusammengehalten durch eine passende und nützliche gemeinsame Geschichte, die normalerweise niemals als Fiktion erkennbar wird?“ Auch stellt sie immer wieder anderweitige theoretische, ethische oder philosophische Reflexionen an, wozu das Geschehen allerlei Anlass bietet. So räsoniert sie etwa über die Liebe, die „wahre Liebe“ gar, über Fragen der Gerechtigkeit und darüber, dass es „nicht so einfach“ ist, „die Schuld den Schuldigen zuzuweisen“. Daher gibt es denn auch weder eindeutig ,gute‘ noch eindeutig ,böse‘ Handlungskonzepte oder ProtagonistInnen. Nun, zumindest keine eindeutig guten.

Die Einheit des Bewusstseins von Anaander Mianaai wiederum wird durch ihre Vielzahl zerrüttet und führt zu einem Bürgerkrieg im Reich der Radchaai. Breq sieht sich durch die Ich-Spaltung der Herrscherin vor das Problem gestellt, dass es Verrat wäre,„irgendeine Fraktion zu unterstützen“, ebenso aber auch, „keine bestimmte Fraktion zu unterstützen“.

Das Radch-Imperium allerdings dürfte den Lesenden überhaupt wenig unterstützenswert erscheinen; ist es doch im Inneren ein totalitärer Überwachungsstaat, dessen BürgerInnen „niemals allein, niemals privat“ sind. Nach außen tritt es als brutale Eroberungsmacht auf. Mehr schlecht als recht wird dies durch eine recht detailliert entwickelte Ideologie verbrämt, in der die „Triade aus Gerechtigkeit, Anstand und Nützlichkeit“ eine wichtige Funktion inne hat.

Zwar gibt es im Universum der Radchaai unzählige Planeten, die von ebenso vielen verschieden humanoiden Arten bewohnt sind, die offenbar alle von einem Ursprungsplaneten stammen, dessen BewohnerInnen vor hunderttausenden von Jahren begannen, sich über die Galaxis auszubreiten. Doch sind fremde, nichthumanoide Spezies fast unbekannt und kommen auch nur am Rande vor. Auf gerade einmal drei verschiedene Aliens sind die Radchaai bislang gestoßen: die Geck, die sehr zurückgezogen leben, die Rrrrrr, mit denen man in einem gespannten Verhältnis koexistiert, und die „absolut fremdartigen“ Presger, einer ähnlich aggressiven Spezies wie die humanoide Art der Radchaai und deren „Fressfeinde“, die für sich das Recht beanspruchten, „alle anderen Lebewesen als Beute, Besitz oder Spielzeug zu benutzen“.

Insbesondere die Handlung des ersten Bandes bleibt zu Beginn eine Weile etwas undurchsichtig, doch schält sie sich langsam als komplex, vielschichtig und voller überraschender Wendungen heraus. Vom jeweiligen Plot der beiden Bücher soll hier jedoch nicht viel verraten werden. In Die Maschinen bricht die Ich-Erzählerin von einem abgelegenen Eisplaneten auf, um sich, begleitet von ihrem Side Kick Seivarden, auf den langen gefahrvollen Weg ins Zentrum des Imperiums zu begeben. Unterbrochen wird dieser Handlungsstrang durch ausführliche Rückblenden in die Zeit der Ereignisse, die zur Zerstörung der Gerechtigkeit von Torren führten.

Im unmittelbar anschließenden zweiten Band erhält die Ich-Erzählerin das Kommando über ein kleines Raumschiff, mit dem sie die titelstiftende Mission erfüllen soll. Eigentlich ist der Plot gar nicht so wichtig und auch die Handlung wird eher gemächlich vorangetrieben, sodass gerade dieser zweite Band nicht besonders ereignisreich ist. Die Lesenden dürften demensprechend wohl auch weniger von dem nicht allzu straffen Spannungsbogen bei der Stange gehalten werden, sondern vielmehr von dem, was gemeinhin als bloßes Beiwerk gilt. So werden unzählige interessante Ideen ausfabuliert, die für die Handlung nicht immer wichtig sind, die dennoch das Universum des Radch-Imperiums gestalten und es den Lesenden plastisch nahebringen etwa durch die Sprachen der EroberInnen und der Eroberten, inner- und intergesellschaftliche Hierarchien, die meist sehr steifen Umgangsformen der Radchaai, ihre Religionen, Philosopheme, die üblichen Intim- und Familienverhältnisse der „Klientinnenschaft“, die Art ihrer Reproduktion, ihrer Statussymbole und Sprichworte. So erhalten die Lesenden ausgiebige Einblicke in Kulturen, Traditionen und die Sozialität der Gesellschaften des Radsch-Imperiums, in dem sich die Ich-Erzählerin bewegt. Auch hat die Autorin Wortspiele erdacht, die darauf beruhen, dass zwei ähnlich klingende Worte in zwei der fiktiven Sprachen des Romans verschiedene Bedeutungen haben. Oder es kommt zu einem Missverständnis, weil in einer der Sprachen die Worte für Genitale und Penis identisch sind, wobei nur der Kontext deutlich macht, wovon gerade die Rede ist. All dies macht die Romane auch und gerade für Lesende attraktiv, die ihr Vergnügen normalerweise nicht so sehr bei der Lektüre von Space Operas finden. Zudem ist es im Allgemeinen unterhaltsam und stilistisch annehmbar erzählt. Allerdings stört es das Lesevergnügen doch einigermaßen, wenn (zumal im zweiten Band) gelegentlich der uralte Kniff aus der erzähltechnischen Trickkiste hervorgekramt wird, einer Figur über Seiten hinweg zu erklären, warum diese was wie gemacht hat, und dabei überdeutlich ist, dass sich diese Erklärung insgeheim an das Publikum richtet. Denn die Figur selbst weiß all das ja sehr genau. Ein Verfahren, dass man bis zum Überdruss vor allem aus visuellen Medien und manchen Whodunit-Krimis kennt.

Festzuhalten bleibt dennoch, dass die Romane, zumal der erste Band, ein seltenes Leseerlebnis bereithalten, die Lektüre mithin also keineswegs vertane Zeit ist.

Titelbild

Ann Leckie: Die Maschinen. Ein Roman aus der fernen Zukunft.
Übersetzt aus dem Englischen von Bernhard Kempen.
Heyne Verlag, München 2015.
541 Seiten, 14,99 EUR.
ISBN-13: 9783453316362

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Titelbild

Ann Leckie: Die Mission. Ein Roman aus der fernen Zukunft.
Übersetzt aus dem Englischen von Bernhard Kempen.
Heyne Verlag, München 2016.
475 Seiten, 14,99 EUR.
ISBN-13: 9783453316935

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