Vom Vertrag zur Anerkennung

Claudia Nitschkes neue Studie „Anerkennung und Kalkül“ analysiert politische Legitimationsfiguren in der Literatur

Von Oliver KohnsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Kohns

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Claudia Nitschkes Studie Anerkennung und Kalkül widmet sich dem Zusammenhang zwischen Rechts- und Literaturgeschichte in der Zeit zwischen 1773 und 1819, also in etwa dem Zeitraum, den man auch als „Goethezeit“ kennt. Die Prämisse der Arbeit ist, dass die deutschsprachige Literatur der damaligen Zeit sich in verschiedensten Genres mit den Problemen der Gründung von Gesellschaft und der Legitimation von Herrschaft auseinandersetzt und spezifische Reflexionsformen dazu hervorbringt. Diese Prämisse wird von zahlreichen kulturwissenschaftlichen Arbeiten der letzten Jahre geteilt, an die auch Nitschkes Text anschließt.

Im Unterschied aber zu zahlreichen dieser kulturwissenschaftlichen Analysen, in denen es vor allem um die Repräsentationslogik von Politik in fiktionalen Texten geht, interpretiert Nitschke die literarischen Texte primär als Instanzen der Reflexion von philosophischen Positionen zur Begründung von Politik. Dabei wird das überaus komplexe Argument entwickelt, dass sich parallel sowohl in den philosophischen wie auch in den literarischen Texten eine Kritik des Vertragsmodells entwickelt und zugleich ein neues Modell, das der Anerkennung, hervorgebracht wird.

Ausgangspunkt der Analyse ist somit das Modell der Vertragstheorie, das unbestreitbar eine zentrale Rolle in den politischen Diskursen des 17. und 18. Jahrhunderts in Europa spielt und bei so unterschiedlichen Autoren wie Hobbes oder Rousseau ausformuliert wird. Das erste Kapitel (des ersten Teils der Arbeit) widmet sich einer Lektüre von Goethes Drama Götz von Berlichingen als Reflexion dieser vertragstheoretischen Entwürfe von Politik und Gesellschaft. Mit Rückgriff auf Machiavelli und Hobbes arbeitet hier Nitschke nicht nur heraus, inwiefern diese Begründungsmodelle auf der Emphase von Eigeninteresse beruhen, sondern auch, wie dieses in Goethes Text als ein anti-soziales, de-stabilisierendes und insofern delegitimierendes Störelement die Politik heimsucht.

Götz reklamiert im Stück die Rolle des Souveräns und positioniert sich insofern an einem „Punkt der Ununterscheidbarkeit zwischen Gewalt und Recht“ (S. 53), wie Nitschke im Anschluss an Agamben formuliert. Indem Götz im Drama als Wolf repräsentiert wird, markiert er eine institutionelle Wiederkehr des Naturzustands inmitten der politischen Organisation, die gewissermaßen eine systematische Lücke in Hobbes‘ Entwurf der Politik als Vertrag offenlegt.

Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit dem ersten Ansatz einer Überwindung des Vertragsmodell durch ein Anerkennungsmodell. Dies geschieht durch die Lektüre von zwei Dramen Lessings, Minna von Barnhelm und Nathan der Weise. In ihrer Lektüre von Minna von Barnhelm zeichnet Nitschke zunächst – in Übereinstimmung mit zahlreichen Forschungsbeiträgen – nach, wie diverse ökonomische Austauschprozesse die Handlung strukturieren.

Die Dramatis personae in Minna von Barnhelm orientieren sich, wie gezeigt werden kann, grundsätzlich an einer Logik des Sozialen, die durch vertragliche Verbindlichkeiten gestiftet wird, beispielsweise in den zahlreichen Diskursen der (monetären) Verschuldung. Insofern schließt das Drama zunächst an das Paradigma des Vertragsmodells an. In Lessings Text gibt es jedoch, so Nitschke, eine „doppelte Währung“ (S. 63): Neben der vertraglich geregelten Zirkulation finanzieller Transaktionen und Verschuldungen gibt es eine Form „emotionaler Vergeltung und Reziprozität“. Der „moralische Verdienst“ wird sodann in Lessings Perspektive zur „eigentlichen Währung“.

Es gelingt Nitschke hervorragend, einen ideengeschichtlichen Zusammenhang zwischen den beiden Dramen Lessings herzustellen, indem sie eine analoge Struktur auch in Nathan der Weise herausarbeitet. Auch dieses Drama ist auf den ersten Blick von zahlreichen Tausch- und Substitutionsbeziehungen geprägt. Dies impliziert jeweils die Einführung einer ‚Währung‘, eines Mediums des Austauschs und der Substitution – wie etwa das Medium der ‚Wahrheit‘ im Umfeld der Ringparabel. Wie in Minna von Barnhelm wird auch in Nathan der Weise jedoch jedes dieser Tauschmedien von einem moralischen Hypermedium gewissermaßen überboten.

Dadurch wird die Orientierung am egoistischen ‚Eigeninteresse‘ durch das „‚wahre‘ Interesse“ am Wohlergehen aller – im Falle Nathans letztlich: der Familie der Menschen – systematisch erweitert. Das Spiel des Austauschs dient also nur auf den ersten Blick dem egoistischen Handeln des Einzelnen, der individuellen Gewinnmaximierung, sondern einem kollektiven, moralischen Nutzen. Damit schließt Lessing natürlich einerseits an ökonomische Theorien des 18. Jahrhunderts an (Mandevilles Bienenfabel): Diese werden aber andererseits, wie Nitschke insistiert, grundsätzlich „invertiert“ (S. 73), indem Lessing das vertragstheoretische Nullsummenspiel durch eine Idee moralischer Synergie ersetzt, welche durch die Erkenntnis des ‚wahren‘ Interesses markiert wird.

Insofern moralisches Verhalten hier letztlich „in der gelebten Moral, im ethischen Miteinander, in der Perspektivenübernahme, in der Spiegelung im Anderen besteht“ (S. 99), interpretiert Nitschke diese Differenz als Übergang von einem vertragstheoretischen Modell sozialen Handelns zum Modell der Anerkennung.Das Modell wird vor allem mit Blick und im Vergleich zur angelsächsischen Moralphilosophie des 18. Jahrhunderts und der (im weiteren Sinne) Gegenwart entwickelt. Insbesondere Adam Smiths Theorem des „impartial spectator“, John Rawls Denkfigur der „original position“ sowie Ken Binmores spieltheoretischer Ansatz werden vergleichend hinzugezogen, um kontrastiv Lessings moralische Perspektive schärfer zu bestimmen.

Die beiden anschließenden Kapitel beschäftigen sich mit Schillers Dramen Fiesko von Genua und Demetrius. Nitschke interpretiert die Verschwörungshandlung in Fiesko von Genua als eine Auseinandersetzung über das Konzept der Würde, das hier gleichermaßen noch im älteren Sinn als Standes bzw. Rangwürde wie auch im moderneren Sinn als Menschenwürde verstanden werden könne. Das Scheitern des Politikers Fiesko im Drama illustriert in dieser Perspektive eine scheiternde Zueignung von ‚Würde‘ und, wie Nitschke mit Rekursen auf Fichte und Hegel ausführt, eine nicht gelingende Anerkennungsrelation. Der erneute Rekurs auf Modelle der Vertragstheorie – in Fieskos Entwurf eines Gesellschaftsvertrags gegenüber den Bürgern von Genua – kann in dieser Perspektive als ein Versuch politischer Manipulation interpretiert werden.

Schillers Demetrius schließlich wird im Gefolge Axel Honneths als ein „Kampf um Anerkennung“ interpretiert. Kaum ein anderes Drama mag den Prozess der problematischen Ich-Findung durch die soziale Anerkennung der Anderen besser illustrieren als Schillers Inszenierung der Geschichte des vermeintlichen Zarensohns Demetrius. Die im Stück ausgeführte Spaltung zwischen Moral und Recht beleuchtet Nitschke sodann mit Blick auf zeitgenössische philosophische Debatten, insbesondere bei Kant, Fichte und Hegel.

Im zweiten Teil der Arbeit analysiert Nitschke „verlorene Individuen“ in (im weiteren Sinn) Kriminalerzählungen des frühen 19. Jahrhunderts. Die Lektüren dieses Abschnitts beschäftigen sich mit E.T.A. Hoffmanns Erzählungen Ignaz Denner und Das Fräulein von Scuderi sowie Kleists Michael Kohlhaas. Die Prämisse dieser Analyse ist, dass die Abweichung vom Normalfall im Kriminalfall „anthropologische Spezifika deutlicher erkennbar werden“ lässt (S. 187).

In der Perspektive der Anerkennungstheorie können Kriminalfälle noch spezifischer als „verlorene oder eben vorenthaltene Chance“ verstanden werden, „sich seinen Anlagen entsprechend zu entwickeln“ (S. 189): Der Kriminalfall erscheint so als eine Fallgeschichte scheiternder Identitätsbildung im Anerkennungsprozess. Diese Perspektive kann Nitschke in Bezug auf Hoffmanns Ignaz Denner überzeugend vorführen.

Die Lektüre von Kleists Michael Kohlhaas zeigt dagegen erneute Modifikationen: Indem Kohlhaas sich durchgehend auf vorrechtliche, ‚natürliche‘ Rechte beruft, wird das Modell der Anerkennungstheorie zugunsten der Vorstellung von Rechten, die jedem Individuum qua Geburt zustehen, aufgegeben. Kleists Novelle weist in dieser Perspektive, mit anderen Worten, auf die moderne Rechtstheorie voraus – und zeigt zugleich bereits deren Aporien auf.

Kohlhaas‘ Ausrufung einer Weltregierung unter seiner Führung greift auf das vertragstheoretische Modell der Genese von Souveränität zurück: Allerdings ernennt Kohlhaas sich selbst zum Souverän, und modifiziert damit das Hobbes’sche Modell entscheidend. Die Anerkennungsmodelle, die in den Texten Lessings und Schillers entwickelt werden, haben sich bei Kleist erkennbar „erschöpft“ (S. 234).

Alles in allem bietet die Studie einen beeindruckenden Beitrag mit hochgradig konzentrierten, philosophisch geschulten neuen Interpretationen zu Texten der „Goethezeit“ aus einer originellen Perspektive, in der die Texte als Reflexionen politischer und moralischer Gründungsdiskurse neu verstanden werden können. Eine große Stärke der Arbeit liegt darin, dass es gelingt, eine außerordentlich komplexe These sehr stringent zu verfolgen und plausibel zu vertreten.

Von besonderem Interesse ist, dass es Nitschke souverän gelingt, moraltheoretische Ansätze aus der angelsächsischen Gegenwartsphilosophie – Haidt, Rawls, Binmore, Scanlon und andere Autoren wären hier zu nennen – in eine innovative Relation zu Texten der deutschsprachigen Literatur ‚um 1800‘ zu setzen. Die These eines Übergangs von vertragstheoretischen zu anerkennungstheoretischen Gesellschaftsmodellen bietet eine faszinierende Methode, um großflächige soziale, ideengeschichtliche und literaturhistorische Entwicklungen zusammenhängend neu zu interpretieren.

Dass dabei einige Fragen offen bleiben, liegt in der Natur einer so umfangreichen Fragestellung. Eine interessante Frage wäre wohl gewesen, ob der beschriebene Übergang vom Vertrags- zum Anerkennungsmodell eine spezifisch deutschsprachige Entwicklung darstellt, die insbesondere den philosophischen Entwürfen der deutschen Spätaufklärung bzw. des Idealismus (Kant, Fichte, Hegel) zu verdanken ist.

Diese These wird in der Arbeit so nicht entwickelt, aber angesichts der Auswahl des Materials doch als Frage angeboten. Bedauerlich ist weiterhin, dass der Dialog zwischen Literatur und Philosophie nicht gleichberechtigt wiedergegeben wird: Es finden sich umfangreiche Lektürekapitel zu Lessing, Schiller oder E.T.A. Hoffmann, aber die philosophischen Gesprächspartner wie Kant, Fichte und Hegel werden nicht gleichermaßen ausführlich behandelt.

Hegel, zweifellos ein zentraler Denker des Modells der Anerkennung, wird häufig referentialisiert, aber eine eingehende Analyse seiner Texte wird vermisst. Ob Axel Honneth, dessen Hegellektüre zur Anerkennung eine wichtige Rolle spielt, wirklich als anerkannter Hegelforscher gelten darf, muss bezweifelt werden. Diese Einwände sollen allerdings nicht den Gewinn dieser Arbeit schmälern, deren Lektüre unbedingt zu empfehlen bleibt.

Titelbild

Claudia Nitschke: Anerkennung und Kalkül. Literarische Gerechtigkeitsentwürfe im gesellschaftlichen Umbruch (1773-1819).
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2020.
79,00 EUR.
ISBN-13: 9783770565078

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch