Sich die Sprache erlaufen

Anlässlich seines 90. Geburtstages hat der Suhrkamp Verlag noch einmal „Canto“ aufgelegt, mit dem 1963 Paul Nizons literarische Laufbahn begann

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Geschichtenerzähler im eigentlichen Sinne hat der in Bern geborene und inzwischen seit mehr als 40 Jahren in Paris lebende Paul Nizon sich nie verstanden. „,Was haben Sie zu sagen?‘ lautete die Frage. Nichts, meines Wissens. Keine Meinung, kein Programm, kein Engagement, keine Geschichte, keine Fabel, keinen Faden. Nur diese Schreibpassion in den Fingern“, liest man als Auskunft des Autors zu seinem künstlerischen Selbstverständnis in Canto, jenem Roman aus dem Jahre 1963, mit dem sich Nizon nach eigenem Bekunden ein zweites Mal zur Welt brachte: als Schriftsteller diesmal.

Aus Anlass seines 90. Geburtstages am 19. Dezember 2019 hat sein deutscher Hausverlag Paul Nizons lyrisch-hymnisches Rom-, Lebens- und Liebesbuch in der von Willy Fleckhaus gestalteten Ausgabe noch einmal herausgebracht und es mit einem aktuellen Nachwort des Autors versehen. Für den stellt dieses Werk nichts weniger als den „eigentliche[n] Beginn“ seiner schriftstellerischen Laufbahn dar. Nach dem schmalen Prosabändchen Die gleitenden Plätze (1959) – für Nizon „nicht die zählende Ouvertüre“ – markiert Canto einen „künstlerische[n] Lebensantritt, ein todesmutiges Ichgefühl“, das sich einen für die Zeit, in der es entstand, so wagemutigen wie überschwänglichen, formell in der deutschsprachigen Literatur völlig neu- und einzigartigen und deshalb viele Leser zunächst auch verstörenden ästhetischen Zugriff auf sein Thema suchte. Auf zweieinhalbhundert Seiten wird gefeiert, was der Autor bis dahin entbehrte: das Gefühl der individuellen Freiheit als Lebensvoraussetzung.

In die große Welt entlassen, aus Bern, seiner Heimatstadt – ein Jahrzehnt später hat Nizon mit dem Buchtitel Im Hause enden die Geschichten (1971) das Dilemma des in die schweizerische Enge Eingesperrten zu charakterisieren versucht – ins weltstädtische Rom gekommen, fühlte sich der Autor zum ersten Mal im Leben wirklich frei. „Ich war ja bis dahin als Werkstudent und voreiliger Familienvater mit zwei Kindern immer in Ketten gewesen“, erinnert sich Nizon im Nachwort zur Neuausgabe fünfeinhalb Jahrzehnte später. Nun, aus Anlass eines ihm 1960/1961 gewährten Aufenthalts am Instituto Svizzero di Roma, befindet er sich plötzlich in einer „lebenslang vermissten Disponibilität“. Und er versteht sie zu nutzen, jene Sorgenfreiheit „zwischen Dolce Vita und Antike“, bricht zu langen Gängen durch die Stadt auf und erobert sich dabei beides: Rom und sein „bislang verpasste[s] und entbehrte[s] Leben“. Nur die Sprache hat er noch nicht gleich dafür.

Die wächst ihm erst durch eine persönliche Katastrophe zu. Nizon büßt als Folge einer erotischen Eskapade seine Familie und die bürgerliche Karriere als Kunstkritiker bei der Neuen Zürcher Zeitung ein. Als „alleinstehender Junggeselle und Arbeitsnomade in billigen Unterkünften“ beginnt er, zu Papier zu bringen, was ihm während seines Rom-Aufenthalts begegnet ist: Stadt, Menschen und vor allem sich selbst. Canto – der Buchtitel ist eine Anspielung auf sein Prosastück Canto auf die Reise als Rezept und entstand in Gesprächen mit Ingeborg Bachmann – wurde kein Roman im herkömmlichen Sinne und entgegen den hochfliegenden Erwartungen seines neuen Verlegers Siegfried Unseld – „Unseld stellte einen Welterfolg in Aussicht.“ – auch nicht sofort erfolgreich, ja lähmte offensichtlich sogar die Produktivität des Autors. „Nach Erscheinen des Buches dauerte es sieben Jahre bis zum nächsten Prosawerk. Ich nenne sie die sieben mageren Jahre“, hält der deshalb später fest.

Es brauchte jedenfalls etliche Zeit, bis dieses, wie Nizon es in einem Gespräch mit Dieter Bachmann ausdrückte (Ein Schreibtisch in Montparnasse, Göttingen 2011), „damals wohl als avantgardistisch aufgefasste, alleinstehende Buch“ seine Wirkung entfaltete. Spätestens aber bei der von Charles Cornu benachworteten zweiten Auflage 1983 – zwanzig Jahre waren inzwischen vergangen und Werke wie Untertauchen. Protokoll einer Reise (1972), Stolz (1975) und vor allem das Paris-Buch Das Jahr der Liebe (1981) hatten Nizons Ruf, einer der innovativsten Schriftsteller seiner Zeit zu sein, gefestigt – stand fest, dass es weder mit seiner poetischen Qualität noch mit dem es beherrschenden Aussteigergeist veraltet war. Im Gegenteil: Gerade seine radikale Abkehr von allen Üblichkeiten des epischen Erzählens, wie es die meisten von Nizons schreibenden Zeitgenossen aus dem deutschsprachigen Raum in den frühen 1960er Jahren praktizierten – Canto ist mehr von der Prosa des nouveau roman beeinflusst –, verlieh dem Roman jene Zeitlosigkeit, die große Literatur von jeher auszeichnet.

Dabei ist Canto, um es mit dem Nizon-Kenner Peter Hamm zu sagen, „kein Buch für Romfahrer […], eher ein Buch für Seelenwanderer“. Zwar tauchen sie alle auf, jene berühmten Straßen und Plätze, Kathedralen, Kirchen und Kaskaden, Triumphbögen und Tiberbrücken, die man mit Rom nahezu automatisch verbindet. Aber nur im Vorübereilen, als Inspirationsquellen und Bewusstseinsmobiliar sozusagen, nimmt sie ein Geist wahr, der mit ganz anderem als touristischen Impressionen beschäftigt ist. Denn eben ist in Bern Nizons Vater verstorben, was das Buch auch zu einem Vater- und Todesbuch werden lässt. „Vater, nichts Nennenswertes“, hebt der Gesang bereits auf seiner ersten Seite an. Und auch im dritten und letzten Teil spielt der Mann, dem der Sohn viel zu verdanken hat, eine wichtige Rolle. Deshalb nimmt Nizon ihn mit auf seine Reise zu sich selbst, eine Fahrt, die auch immer wieder in eine Auseinandersetzung mit dem Tod mündet. „Vater, ich muß dich von der Wand nehmen, einpacken muß ich dich. Wir reisen. Wir verlassen die Stadt“, ist da beispielsweise zu lesen.

„Ich hatte nichts (Bestimmtes) zu sagen. Ich wollte alles sagen. Alles auf einmal. Und Rom war nicht einfach der Rahmen. Rom war die Quelle, die Taufe. Sieg oder Untergang“, erinnert sich der Autor heute an jenen sich Bahn brechenden Schreibfuror, dessen Ergebnis nach mehr als einem halben Jahrhundert nichts von seiner mitreißenden Kraft eingebüßt hat. Für Paul Nizon stand von da an fest, dass das Schreiben die beste, für ihn vielleicht sogar die einzig funktionierende Möglichkeit darstellte, sich des Lebens – und des Todes, auf den man hinlebt – bewusst zu werden. Sich mit Worten auszudrücken, auch wenn sie ihren Gegenstand nicht festzuhalten vermögen, schafft dem Sein eine Basis, einen Grund, auf dem Existenz für den sich die Welt Erschreibenden erst möglich wird. Es sind Sätze wie die folgenden, die diese Erkenntnis – so einzigartig wie einprägsam formuliert – festhalten: „Schreiben, Worte formen, reihen, zeilen, diese Art von Schreibfanatismus ist mein Krückstock, ohne den ich glatt vertaumeln würde. Weder Lebens- noch Schreibthema, bloß matière, die ich schreibend befestigen muß, damit etwas stehe, auf dem ich stehen kann.“ Eine heutige Lektüre sollte sich des nach wie vor gültigen Ratschlags in Peter Hamms 1962 erschienener Zeit-Rezension erinnern: „Am besten liest man dieses Buch laut, dann merkt man auch, daß sein Titel stimmt.“

Titelbild

Paul Nizon: Canto.
Mit einem Nachwort des Autors.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019.
256 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783518429044

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