Das Böse

Joyce Carol Oates schreibt einen Roman, der an die Schmerzensgrenze führt

Von Werner JungRSS-Newsfeed neuer Artikel von Werner Jung

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Detroit, Ende 1977. Längst ist die Pracht der einstmals durch die Automobilindustrie blühenden Stadt verschwunden und aus der „Motor City“ die „Mord City“ geworden, wie es an einer Stelle in Joyce Carol Oates‘ neuem Roman heißt. Längst auch hat sich die weiße Bevölkerung, haben sich insbesondere die Reichen und Superreichen von Downtown abgewandt und im Umland, etwa in Grosse Pointe, niedergelassen – natürlich in „gated communities“. Wenn überhaupt, dann trifft man sich noch bei einigen „charity events“ in Nobelhotels. Die verrotteten Straßen hat man den Schwarzen überlassen, in jener Stadt, die seit Anfang der 60er Jahre das Zentrum der Soul-Musik ist, deren Herz in den Motown Studios schlägt.

All das bildet den Hintergrund für einen Roman, der ausschließlich in den Kreisen der Schönen und Reichen, ja, der Megareichen spielt. Dazu zählt auch die Familie Jarrett, zu der Wes, Hannah und die beiden Kinder Conor und Kaya sowie das Hausmädchen Ismelda gehören. Natürlich bewohnt man ein schmuckes Eigenheim weit vor der Stadtgrenze und fährt – wenn überhaupt – selten in eines der teuren Kaufhäuser oder – ab und an – zu einem gesellschaftlichen Event. Dort lernt Hannah, Ende dreißig und irgendwie gelangweilt vom Erfolgsehemann, einen attraktiven, gleichwohl geheimnisvollen Fremden kennen: Y. K., wie er später im gesamten Text genannt wird. Sie folgt seiner Einladung zu einem Stelldichein ins Luxushotel Renaissance Grand „am Ende der Woodward Avenue, am Detroit River gelegen, der Grenze zwischen den Vereinigten Staaten und dem kanadischen Ontario.“ Der Roman beginnt damit, dass sich Hannah auf dem Weg in den sechsten Stock, zu Zimmer 6183, befindet, geplagt von Gewissensbissen, zugleich aber entschlossen, den Seitensprung zu riskieren. Vor der Tür das Schild: Bitte nicht stören. Ab dann wird es „spooky“, und Oates‘ Text, der auf meisterhafte Weise Thrillerelemente integriert, zeigt, dass und wie eine typische US-amerikanische Frau der weißen „upper class“ in die Fänge eines skrupellosen „womanizers“ gerät und die verschiedensten Stadien von sexueller Hörigkeit bis zur völligen Selbstpreisgabe durchläuft.

Parallel zu diesem Handlungsstrang – und daher stammt der Titel des Romans – erzählt Oates unter Rückgriff auf den realen Fall des sogenannten „Oakland County Child Killer“, der zwischen 1976 und 1977 vier (weiße) Kinder im Alter von zehn bis zwölf Jahren vergewaltigt und bestialisch ermordet hat, die Geschichte eines zutiefst gestörten Pädophilen aus steinreichem Haus. Dieser Bernard Rusch, der Babysitter, der für die Morde verantwortlich ist und am Ende noch seine beiden Eltern, Bekannte der Jarretts, umbringt, ist – auf undurchsichtige Weise – mit Y. K. verbandelt, der wiederum einen Adlatus, Ponytail Mikey, später Mikhail, für diverse kriminelle Drecks- und Aufräumarbeiten beschäftigt. Versteht sich, dass Mikey natürlich bisweilen auch für „Mister R_“, Bernard Rusch, auf Geheiß des, wenn man so will, Oberbosses und Strippenziehers Y. K., auch Hawkeye, wie Mikey ihn nennt, tätig ist. So sorgt Mikey u. a. dafür, dass das letzte Opfer des Babysitters schwer misshandelt, dennoch lebend, gefunden wird, bevor Mister R_ dann selbst tot aufgefunden wird.

Beide Handlungsstränge werden parallel erzählt, bewegen sich dann rasant aufeinander zu, um in einem grandiosen Finale schließlich alle vermeintlich geklärten Rätsel erneut zu verrätseln. Der Text endet wie er begonnen hat: vor einer verschlossenen Hotelzimmertüre mit dem Schild „Bitte nicht stören.“ – Was aber ist hinter dieser Türe? Wer bringt am Ende wen um, Hannah Y. K. oder vielmehr Mikey seinen Chef, wie einmal angedeutet wird? Und was hat es mit der irritierenden Zeitangabe – Dezember 1977 –, mit der die Geschichte von Oates‘ Roman ihren Auftakt nimmt und zugleich auch wieder endet, auf sich?

Joyce Carol Oates, die große Erzählerin der US-amerikanischen Literatur, die – ähnlich wie Philipp Roth oder John Updike – das Schicksal ereilen wird, wohl nie den wohlverdienten Literaturnobelpreis zu erhalten, hat wieder einmal einen irritierenden, an die Schmerzgrenzen ihrer Leser:innen führenden (Zeit-)Roman geschrieben, der in der exzellenten Übersetzung von Silvia Morawetz auch im deutschen Sprachraum garantiert seine Verbreitung finden wird.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Joyce Carol Oates: Babysitter. Roman.
Aus dem Englischen von Silvia Morawetz.
Ecco Verlag, Hamburg 2024.
512 Seiten, 24 EUR.
ISBN-13: 9783753000831

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch