Traumatisierung und Tennô-Psychose

Kenzaburô Ôes frühes Psychogramm des Künstlers im Kontext seiner Prägungen

Von Lisette GebhardtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lisette Gebhardt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Akihito, der aus Altersgründen vom Amt im April 2019 zurücktrat und von dessen Ära Heisei sich die Untertanen gerade verabschiedet haben, bleibt als guter Kaiser in der Erinnerung. Das Gedenken an seinen Vater, Shôwa Tennô (1901–1989), ist bis heute wohl eher ambivalent. Hirohito hatte von 1926 bis zu seinem Tod die japanische Geschichte geprägt. Mit ihm trat Japan in den Zweiten Weltkrieg ein, der für das Land mit den Bomben auf die Städte Hiroshima und Nagasaki endete. Der erste und bis dato einmalige Einsatz einer Atom- beziehungsweise Wasserstoffbombe eröffnete der Menschheit die neue Aussicht auf ihre mögliche Auslöschung.

Kenzaburô Ôes Der Tag, an dem Er selbst mir die Tränen abgewischt ist eine frühe Version der literarischen Thematisierung des Autors der Konfrontation der jungen Shôwa-Generation mit der Väter-Generation, des japanischen Imperialismus und des Übervaters der Nation, des Kaisers. Die zwiespältige Vaterfigur erscheint immer wieder in Ôes Arbeiten – eine spätere Variante der Familiensaga um Vater, Mutter und Sohn stellt der Roman Der nasse Tod (2009) dar.

Der Tag, an dem Er selbst mir die Tränen abgewischt beginnt als Psychiatrie-Roman in typisch grotesk-absurder Ôe-Manier mit ebenso anschaulichen wie befremdenden Bildern, die dem Leser noch lange nachhängen. Dazu gehört die Eröffnungsszene des Texts, in der sich ein Patient der neurologischen Abteilung mittels einer „Rotex-Rotorschere“ die Nasenlöcher ausrasiert. Bei diesem handelt es sich um einen wahnhaften Hypochonder, der sich im letzten Stadium des Leberkrebses wähnt. Hinter der Krebsphobie verbirgt sich aber offenbar eine veritable Tennô-Psychose. Tatsächlich wird der psychisch Beeinträchtigte von Erinnerungen an seinen verstorbenen Vater und die Endphase des Kriegs heimgesucht. Durch die sich ihm aufdrängende Präsenz seines „ALTEN“ gezwungen, muss „er“, der in der Mitte seines dritten Lebensjahrzehnts steht, die letale väterliche Krankheit ausagieren und jene Tage „im Tal hinterm Wald“ aus den Tiefen des Gedächtnisses hervorholen. Der Protagonist trägt eine mit grünem Zellophanpapier beklebte Unterwasserbrille, eine Nachahmung der seltsamen Brille, die sein ins imperialistische Treiben verstrickter Erzeuger aufgesetzt hatte, als er im Sommer 1944 aus dem von der japanischen Armee in der Mandschurei besetzten Gebiet nach Hause zurückkehrt.

Auch eine unsägliche Szene imitiert der Sohn – er fällt „taumelnd irgendwie aufs Bett, über dessen Laken sich der Urinschwall ergoss“. Damals hatte der Junge gesehen, wie der an Blasenkrebs im Endstadium leidende Vater durch eine unglückliche Aktion des Kindes nach hinten umkippte und im selben Moment „aus dem vorderen, schon längst durch keinen Knopf mehr gesicherten Latz der Volksuniform-Hose wie von selbst der große schwärzliche Penis“ hervorsprang. Aus diesem ging dabei „ein Strom übelriechenden Urins“ ab.

Zugleich ist es der Alter Ego-Figur aus dem literarischen Kosmos des Kenzaburô Ôe klar, dass die persönliche Traumatisierung und die eigene Fixierung auf die Saga seines Vaters in enger Beziehung stehen mit einer kollektiven Verwundung und dem nationalen Mythos um den Tennô als Vater seines Volks. Insofern möchte der Patient von der anwesenden „Testamentsnotarin“ (Krankenschwester) seine Erlebnisse aufgezeichnet wissen als ein „Stück Zeitgeschichte“, das, so bildet er sich ein, „bei den Vereinten Nationen auf lebhaftes Interesse stoßen wird“.

Ôe spricht hier natürlich von ironischer Warte aus. Seine Entwicklung des Themas japanischer Nationalismus und kindliche Psyche nimmt noch etliche Wendungen und Verläufe, wie auch der Patient weitere Wahrnehmungen des Vergangenen zu Protokoll geben wird, bis er in die letzte Krise fällt, ausgelöst durch die Erinnerung an die Instrumentalisierung des Knaben. Das Psychodrama wirft ihn schließlich zurück auf die zwei Linien seiner Herkunft – er trägt neben dem väterlichen, patriotischen Blut das der mütterlichen Seite in sich, die offenbar mit einem des Hochverrats Bezichtigten verwandtschaftliche Beziehungen aufweist.

Angesichts der aktuellen, dem Nationalen zugeneigten Stimmungslage eines Japan unter der Regierung Abe wäre es durchaus angebracht, sich wieder für japanische Nationalismen, ihre Historie und ihre neueren Ausprägungen zu interessieren. Die Einsichten eines Kenzaburô Ôe kann man dafür nur zur Relektüre empfehlen. In bester poetischer Montur bietet der Text eine Reihe nachhaltiger Metaphern für den patriotischen Rausch, der andererseits auf psychologischer und geschichtlicher Ebene jede erhabene Dimension verliert.

Titelbild

Kenzaburô Ôe: Der Tag, an dem Er selbst mir die Tränen abgewischt. Roman.
Übersetzt aus dem Japanischen von Siegfried Schaarschmidt.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 2019.
175 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783596296682

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