Geht denn mit dem Alter alles bergab?
Kurt Oesterle schildert in seinem Gegenwartsroman „Alten Mann braucht niemand mehr“ das Alter als Zeit der Freiheit und Gelassenheit
Von Siegfried Frech
Besprochene Bücher / Literaturhinweise„Das Älterwerden ist einem auf den Fersen wie ein Stalker, der sich an kein Distanzgebot hält und dafür nicht einmal belangt werden kann.“ Dieses Zitat des Lebenskunstphilosophen Wilhelm Schmid nimmt die biologische Unabänderlichkeit des Älterwerdens gelassen in den Blick. Anders hingegen die öffentliche – und gelegentlich auch politische – Debatte, in der Alter und Älterwerden als Katastrophe apostrophiert werden. Der „Herbst“ des Lebens wird Älteren oftmals durch demographische Schwarzmalerei vergällt. Diesen Debatten zufolge nehmen „die Alten“ den Jungen die Zukunft weg – einfach dadurch, dass sie zu lange leben. Dieser Offenbarungseid enthüllt ein System, das nicht willens und anscheinend nicht in der Lage ist, sich um die (ganz) Alten zu kümmern – ein System, das selbst dement ist.
Der Schriftsteller Kurt Oesterle, Jahrgang 1955, hat vor wenigen Wochen den Roman Alten Mann braucht niemand mehr vorgelegt. Im Mittelpunkt des überaus lesenswerten Buches, das einen beachtlichen philosophischen Tiefgang entfaltet, stehen der 69-jährige Otto und der Mikrokosmos einer beschaulichen, in Baden-Württemberg gelegenen Universitätsstadt. Nach dem Tod seiner Ehefrau sinniert Otto, ein sensibler Beobachter des Alltags und seiner Mitmenschen, aus der Perspektive eines alternden Menschen über fundamentale Fragen: Was ist der Sinn des Lebens? Wann ist das Leben gut? Die Gedanken über Sterben und Tod, begleitet von wachsenden Gefühlsunsicherheiten, sind ein wesentlicher Bestandteil seiner Sinnfrage.
Die Vielzahl von Alltagsszenen und menschlichen (allzu menschlichen) Begegnungen spielen sich vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie ab und offenbaren, wie verletzlich doch moderne Gesellschaften sind. Pandemieverursachte Sorgen und Ungewissheiten zeigen, dass der Mensch mitnichten Herr im eigenen Hause ist.
Otto, ein treuer Stammwähler der SPD, ist ein reflektierter Bürger, dessen Verhältnis zur Demokratie loyal und skeptisch zugleich ist. Er registriert sehr wohl die Schere zwischen Reichtum und Armut in einer gut situierten schwäbischen Kleinstadt und muss konstatieren, dass Menschsein allzu oft am Lineal von Ökonomie und Leistungsfähigkeit gemessen wird. Ein herrlicher Kontrapunkt zu diesem gesellschaftlichen Leitbild ist ein Rentnertreff in einem städtischen Park. Otto besucht ab und an diese illustre Runde, die vermeintliche Lebensweisheiten verkündet, mit zunehmenden Alkoholgenuss jedoch ins Räsonieren und Schwadronieren verfällt, gar reaktionäre und rassistische Stammtischparolen von sich gibt. Otto ist hier in der Rolle eines teilnehmenden Beobachters, der sich von dieser Gruppe notorischer Stänkerer und Schwätzer zu distanzieren weiß. Anstatt ins Lamentieren zu verfallen, verleihen feste Rituale – so der tägliche Spaziergang – seinem Alltag einen Sinn. Auch Sekundärtugenden geben ihm Struktur und Halt. So ist es für ihn undenkbar, ohne geputzte und polierte Schuhe das Haus zu verlassen. Ebenso amüsant wie die „Hobby-Philosophen“ im Park sind die Kapitel, in denen Besuche bei seiner Tante Ingeborg, einer ehemalige „Volksschullehrerin“, geschildert werden. Der unverbildete und dennoch mit angeborenem Scharfsinn ausgestattete Otto geht mit der rüden Art und dem unverblümten Tonfall seiner Tante souverän und vor allem gelassen um.
Zwischen meditativen Momenten und gelegentlichen Sinnkrisen hat Otto Freude an der Natur. Er füttert trotz Anfeindungen von Landwirten und anderen Zeitgenossen Krähen und kann sich an Nebensächlichkeiten, mit der die Natur aufzuwarten weiß, erfreuen. Hinzu kommt all die Leichtigkeit, die ihm seine Musikinterpreten bereiten: die Beach Boys, Johnny Cash, Tom Petty oder CCR sprechen ihn unmittelbar an, in den Gedankenwelten der Songs findet er für sich letztlich Gewissheiten, wie man das Alter leben kann.
Kurt Oesterle, ausgezeichnet mit dem Theodor-Wolff-Preis, dem Berthold-Auerbach-Preis und dem Ludwig-Uhland-Förderpreis, vermittelt mit seinem neuesten Roman wichtige Denkanstöße, die gesellschaftspolitische und soziale Fragen des Älterwerdens thematisieren. Der Roman ist nicht nur ein besonderes Lesevergnügen, er weist auch über den Tag hinaus, transportiert er doch eine klare Botschaft und gleichzeitige Frage: Wie muss eine Gesellschaft beschaffen sein, damit ein Mensch auch im Alter Mensch bleiben kann? Und zu guter Letzt ist die Lektüre eine Anregung, um Einkehr bei sich selbst zu halten.
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