Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum

Jahrzehnte nach dem „spatial turn“ analysiert der Sammelband „Raum und Zeit im Minnesang“ von Annette Gerok-Reiter, Anna Sara Lahr und Simone Leidinger diese beiden Parameter

Von Verena BrunschweigerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Verena Brunschweiger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Annette Gerok-Reiter, die sich in Verletzungen und Unversehrtheit in der deutschen Literatur des Mittelalters mit Minne als physischer und psychischer Verletzung in der frühen Lyrik beschäftigt, hat jetzt mit zwei Kolleginnen einen Sammelband herausgegeben, der ebenfalls auf eine Tagung zurückgeht, in deren Zentrum Raum und Zeit im Minnesang standen. Einem Aufriss folgen vier Blöcke: „Raum und Zeit: Elementareinheiten – Elementarordnungen“, „Naturräume – Jahreszeiten“, „Raum-Zeiten der Minne“ und „,Aufhebungen‘ von Raum und Zeit: Präsenzeffekte?“.

Die bisherige Forschungslage ist keinesfalls desolat, dennoch „fehlt die übergreifend gestellte Frage, ob und wie Raum und Zeit nicht nur als notwendiges Ingrediens jeder sprachlichen Äußerung fungieren, sondern zum Agens der jeweiligen Liedstruktur, ja mehr noch zur Sinnmatrix des jeweiligen Liedes werden. Es fehlt darüber hinaus die Frage nach möglichen literarhistorischen Differenzierungen der Raum-Zeit-Organisationen“.

Diana Roevers Beitrag Auf der Zinne. Zur Diagrammatik eines Topos der mittelhochdeutschen Dichtung weist einleitend auf die Mannigfaltigkeit und beachtliche Quantität der Kontexte hin, in denen die Zinne vorkommt, wobei sie Belegstellen aus nicht-fiktionalen Texten ausklammert. Stattdessen fokussiert sie aparte Verwendungen wie im Wolfdietrich B, wo eine leere Zinne auf den Kopf eines weiteren Bewerbers um die Hand der Königstochter wartet. Giacomo Puccinis Turandot fällt einem hier unweigerlich ein, ebenso all die anderen ‚ach so bösen‘ Frauen, welche die ‚armen‘ Männer ins Verderben locken. Die Zinne hat einen ganz realen Nutzen, aber sie birgt auch stets einen poetisch-semantischen Gehalt. Um diesem genauer auf den Grund zu gehen, arbeitet Roever mit Jurij M. Lotmans Konzept der Semiosphäre, also dem abgeschlossenen Kulturraum, in dem sich semiotische Prozesse abspielen. Mündliche Kulturen sind in besonderem Maß auf Symbole angewiesen. Zudem bemüht die Autorin die Diagrammatik Matthias Bauers und Christoph Ernsts, wonach Diagramme Bild-Schrift-Kombinationen darstellen, die zusammen mehr vermögen als allein. Anhand etlicher Dichtungen wird gezeigt, dass sich der Rezipient „durch die im konkreten Text gegebenen Grundrelationen und die ihm über den Topos ,Zinne‘ vertrauten sekundären Relationen ein Arbeitsdiagramm [bildet], in dem er Beziehungen und Bewegungen austesten kann“.

Aus der Sammlung aufschlussreicher Beiträge sticht außerdem Harald Haferlands Raumsprünge und Zeitblasen bei Morungen (besonders in den Liedern MF 129,14ff.; MF 139,19ff.; MF 145,1ff.) heraus. Seine Prämisse lautet, dass die einzelnen Minnekanzonen eines Autorkorpus praktisch immer einen zusammenhängenden Text ergeben. Im Falle Heinrichs von Morungen frappieren neue Vorstellungswelten, die dadurch geschaffen werden, dass die Ich-Origo das Hier und Jetzt verlässt. Ganz wie in Brigitte Faßbenders Inszenierung von Gaetano Donizettis Lucia di Lammermoor, wo Lucias Wahnsinnsarie als Affektzustand ganz losgelöst präsentiert wird und sozusagen eine Projektion in virtuelle Räume und Zeiten erfährt. Alle Lieder des genre subjectif stellen „einen gemeinsamen referentiellen Raum und damit eine Diskurswelt“ her. Der Verfasser trägt der gegenwartsdiagnostischen Relevanz der Mediävistik Rechnung, indem er im Kontext seiner Ausführungen zur Konzeptzeit der Minne die Bildung eines Flashmobs zur Illustration heranzieht. Eine wohltuende Offenheit lässt sich auch Haferlands Äußerung entnehmen, eine psychoanalytische Interpretation zuzulassen. Morungen spiele mit übertriebenen Posen, und auch die Raum-Zeit-Sprünge seien nichts anderes als Stilmittel, um „Vorstellungs-, Animations- und Imaginationsräume zu erschließen und sein Publikum in einen Abgrund von Traumvision, Wahn und psychologischen Extremzuständen hineinzuziehen“.

Der dritte besonders erwähnenswerte Beitrag stammt von einer der Herausgeberinnen. In Bild und Klang. Lyrischer Präsenzeffekt bei C Dietm 12 und 13 geht Simone Leidinger von einer Aufführung der Lieder aus und stellt zwei prominente Forschungsstränge vor: einen semantisch-pragmatischen zu Rolle und Fiktionalität (der als reduktionistisch entlarvt wird) und einen kulturhistorisch-ästhetischen zum lyrischen Präsenzeffekt. Ähnlich wie bei Haferland fallen auch hier Autor, Sänger- und Text-Ich in eins. Klang ist für Leidinger durchaus eine Kontaktkategorie und somit ein mögliches lyrisches Element. Was die beiden Dietmar-Lieder, die im Zentrum der Untersuchungen stehen, betrifft, zeigt die Verfasserin, dass ,lyrische‘ „Poetizität gerade im Austausch zwischen Bildsemantik und gesteigerter Klanglichkeit der Lieder entsteht“. Letztere verdanken wir dem Klang der Sprache allein, der Wortwahl und der Versstruktur, gar nicht so sehr der Reimstruktur.

Besonders erfreulich ist, dass der Klang eine so dominante Rolle spielt in diesem Buch, das, wie die Herausgeberinnen selbst schreiben, keine neue Literaturgeschichte des Minnesangs darstellt,

auch wenn Differenzierungen entlang der Diachronie durchaus immer wieder aufhorchen lassen. Was vielmehr sichtbar wird, ist im Ansatz eine Systematik der räumlichen und zeitlichen „Denkformen“ des Minnesangs und ihrer ästhetischen Spielräume, ein Ansatz, dessen Differenzierungsgrad über Kategorisierungen wie ,schon‘ Hohe Minne oder ,nicht (mehr)‘ Hohe Minne weit hinausgeht und eben darin seine Produktivität beweist.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Annette Gerok-Reiter / Anna Sara Lahr / Simone Leidinger (Hg.): Raum und Zeit im Minnesang. Ansätze – Spielarten – Funktionen.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2020.
398 Seiten, 45,00 EUR.
ISBN-13: 9783825369866

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