Von Liebe, Kunst und Wahnsinn

Markus Orths hat einen Roman über Max Ernst geschrieben

Von Anja BeisiegelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anja Beisiegel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn sich ein Roman einem der ganz großen Namen der klassischen Moderne annähern will, muss der Autor sich entscheiden. Er kann das Künstler-Leben entweder chronologisch erzählen oder es anhand verschiedener Werke und künstlerischer Entwicklungsphasen ausbreiten. Markus Orths entscheidet sich in Max, seinem Roman über Max Ernst, anders: Er erzählt das lange Leben des Künstlers, der immerhin fast 95 Jahre alt wurde, entlang seiner sechs großen Lieben. „Sechs Frauen, sechs Lieben, ein Jahrhundert“ titelt – passenderweise und programmatisch – der Aufkleber auf dem Cover. Ein Mammutwerk.

Der Weg, auf den sich Markus Orths begibt, ist nicht ganz risikofrei: Die sechs Frauenfiguren in Max Ernsts Leben sind alle für sich bereits einen Roman wert. Leonora Carringtons Leben diente bereits für Peter Prange (Himmeldiebe) und Elena Poniatowska (Frau des Windes) als Romanstoff. Da muss sich der Protagonist – auch wenn er so schillernd ist wie Max Ernst – in seiner Hauptrolle schon beweisen, um nicht an den Rand gespielt zu werden. Aber: Markus Orths Projekt „Ein Jahrhundert – Sechs Frauen“, das sei schon einmal vorweggenommen, gelingt.

Die sechs Frauenleben, die sich mit Max Ernsts Biografie verschränken, sind so unterschiedlich, wie Frauenleben des 20. Jahrhunderts es nur sein können: manchmal schräg, manchmal schrill, nie langweilig. Lou (Luise Straus-Ernst), geboren 1893, war Max Ernsts erste Ehefrau. Klug, selbstbewusst und eigenständig verdiente sie ihren Lebensunterhalt als Kunsthistorikerin und Journalistin. Längst geschieden emigrierte die Jüdin Lou vor den Nazis nach Frankreich. Max Ernst gelang es nicht, für sie ein Ausreisvisum nach Amerika zu erhalten. Lou wurde in Frankreich verhaftet und 1944 in Auschwitz ermordet.

In die Ehe von Lou und Max hinein platzte Gala (Jelena Dmitrijewna Djakonowa). Sie verkörpert den Typus der kosmopolitischen Künstlermuse par excellence: Verheiratet mit dem Dichter Paul Éluard und später mit Salvador Dali bildete sie den Mittelpunkt der Ménage-à-trois zwischen Max und „Galapaul“ (dem Ehepaar Éluard).

Die überspannte Kindfrau (und später frömmelnde Katholikin) Marie-Berth Aurenche trat 1927 in Max Ernsts Leben. Eine „Holterdipolterhochzeit“. Es folgte Max Ernsts große Liebe: die junge Kunststudentin Leonora Carrington, mit der er im südfranzösischen Exil zusammenlebte. Im wirklichen Leben wehrte sich sie Künstlerin zeitlebens dagegen, dass ihr künstlerisches Schaffen auf ihre kurze – jedoch intensive – Beziehung zu Max Ernst reduziert wurde.

Nach der Liaison mit Leonora folgte die Heirat mit der exzentrischen Mäzenin Peggy Guggenheim: Mit ihr gelang die Flucht in die Vereinigten Staaten, jedoch keine glückliche Ehe. Bereits 1946 schloss er seine vierte und letzte Ehe mit der amerikanischen Künstlerin Dorothea Tanning, mit der er bis zu seinem Tod 1976 verheiratet war, nachdem er „dreiunddreißig Jahre lang von Frau zu Frau gestürzt war“.

Markus Orths gelingt es, die sechs Frauen in ihrer Einzigartigkeit und Unabhängigkeit darzustellen, ohne dabei Max Ernst – als Bezugspunkt – aus dem Auge zu verlieren. Das Konstrukt des Romans als Leben in sechs Lieben geht auf. Max Ernsts Frauen sind in Orthsʼ Roman nicht nur Versatzstücke eines prallen Privatlebens („ein unermüdlich ratterndendes Glücksrad von Affären und Beziehungen“), sondern eigenständige Persönlichkeiten, die Max Ernst in seiner künstlerischen Entwicklung beeinflussten und befruchteten – und sich in ihrer eigenen Arbeit von ihm gleichfalls beeinflussen ließen. Das gilt nicht nur für die beiden Künstlerinnen Leonora Carrington und Dorothea Tanning. Seine erste Frau Lou Straus-Ernst war aktiv in der Kölner Dada-Gruppe, Gala und Peggy Guggenheim organisierten und kuratierten die Arbeit des Künstlers (und seiner Nachfolger).

Wie das Motto „Sechs Frauen, sechs Lieben, ein Jahrhundert“ es vorausnimmt, ist Max auch ein Roman über ein Jahrhundert. Dada in Köln, Surrealismus in Paris. Ein rasanter Ritt durch die Moderne von Marcel Duchamp bis Jackson Pollock. Dazwischen die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts: Der Erste Weltkrieg, „vier lange, kahle Schattenjahre“, die Max Ernst in den Schützengräben Frankreichs erlebte. In den 1920er Jahren zog es ihn dann nach Paris. Es folgten die Schikanen und Verfolgungen der Nazis: Seine Arbeiten wurden als „entartet“ eingestuft, seine ehemalige Frau Lou und der gemeinsame Sohn verfolgt. Internierung in Frankreich und schließlich die Flucht in die Vereinigten Staaten von Amerika, wo er als Exilant an der Seite Peggy Guggenheims ein wirtschaftlich gesichertes Leben führte. Und danach lebte er – an Dorotheas Seite – als Aussteiger in Sedona (Arizona) und als international beachteter Künstler in Paris.

Markus Orths hat für seinen Roman eine Fülle von Quellen aus Max Ernsts künstlerischem und privatem Umfeld ausgewertet. So greift er bei seiner Recherche auf Selbstzeugnisse von Louise Strauß-Ernst, Peggy Guggenheim, Dorothea Tanning und Max Ernsts Sohn Jimmy Ernst zurück. Auf dieser Grundlage realen Geschehens gestaltet Orths seinen „Max“. Er entwirft Szenen, imaginiert Gespräche und lässt den Leser immer wieder tief in die Gedankenwelt seines Protagonisten eintauchen. Orths entfernt sich – bei aller Genauigkeit – weit von einer bloß biografischen Schreibweise, hin zu einer höchst artifiziellen, poetischen Annährung an den Künstler Ernst, den er Max nennt. Der Autor greift dabei sprachlich auf Elemente des Dada zurück und versucht Ernsts surrealistische Bildwelten in Worte zu gießen.

Bereits das Kind Max blickte in der Holzverkleidung seines Kinderzimmers auf „die Musterungen, die Kerben und Dellen“ und sah darin eine „Welt, die auf ihn einstürzte und zugleich aus ihm herausbrach. Eine Welt jenseits des Bekannten.“ Markus Orths lässt den fieberkranken Jungen entführen von „Gestalten, die gar nicht existierten, die aus Kontur und Schraffierung sprangen.“ Der Junge erlebt in seinen Träumen Teufel, Gnome, gierige Geier und hässliche Maden. Eine Welt wie in einem Gemälde Hieronymus Boschs.

Die Fähigkeit, in den Texturen unterschiedlichster Materialien fremde Welten zu entdecken, führte zu Max Ernsts bekanntesten künstlerischen Techniken: der Frottage und der Grattage. Markus Orth findet für Ernsts künstlerische Arbeit passende Worte, lässt Max auf der Leinwand kratzen, „bis das Bild, das dort hängt, dich selber kratzt und Schicht um Schicht der Leinwand freilegt, die du Ich nennst und glaubst so gut zu kennen, wie die Hand vor den Augen.“

Als der junge Student Max zum ersten Mal mit der Kunst von „Irren“ in Berührung kommt, inspiriert ihn diese, denn die Patienten der Psychiatrie „scheren sich um sich selbst, sie scheren sich selbst im wahrsten Sinne des Wortes, sie scheren ihr Inneres wie wild wuchernde Wolle“. Max will ein Buch schreiben, „der Wille zur Wolle, hehe, ja, ein Buch über die Kunst und den Wawawahnsinn, das wäre es doch.“

40 Jahre nach Max Ernsts Tod schreibt Markus Orths seinen Roman über Max, den „Wawawahnsinn“ von Kunst, Leben, Liebe und das 20. Jahrhundert. Ein Kosmos aus Liebe und Erotik, kosmopolitischer Künstlerszene und Wüsteneinsamkeit, individueller Selbstentfaltung und politischer Repression. Ein Buch für Kunstinteressierte? Unbedingt! Aber auch eine passende Lektüre für alle, die sich für Frauenbiografien, Liebe und das 20. Jahrhundert interessieren.

Titelbild

Markus Orths: Max. Roman.
Carl Hanser Verlag, München 2017.
576 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783446256491

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