Familiengeschichte als Weltgeschichte im Kleinen
In seinem fünften Roman „Die Leben der Elena Silber“ erzählt Alexander Osang mehr als die Geschichte seines eigenen Herkommens
Von Dietmar Jacobsen
Es beginnt im Jahre 1905 mit der brutalen Ermordung eines Revolutionärs. In der kleinen Stadt Gorbatow an der Oka, einem Nebenfluss der Wolga, wird Viktor Krasnow von einer Horde aufgeputschter Kleinbürger totgeschlagen und gepfählt. Damit ihnen nicht dasselbe geschieht, fliehen noch in derselben Nacht Krasnows Ehefrau und seine beiden Kinder – Pawel und Jelena – okaabwärts bis nach Nischni Nowgorod. Dort wird Jelena groß, ehe sie 1918 fünfzehnjährig in ihre Geburtsstadt zurückkehrt.
Den pompös inszenierten Schauprozess gegen die Mörder ihres Vaters, der von den örtlichen Vertretern der jungen Sowjetmacht zum Märtyrer für die revolutionäre Sache gemacht wird, erlebt die junge Frau innerlich distanziert – zumal die Hauptschuldigen von damals mit vergleichsweise geringen Strafen davonkommen, der wirklich Reumütige der fünf noch lebenden Täter aber erschossen wird. Eine kurze Romanze mit dem Sohn dieses Mannes – sie wird ihm, der einzig wahren Liebe ihres Lebens, in den Wirren am Ende des Zweiten Weltkriegs wiederbegegnen – endet für Jelena Krasnowa, als der deutsche Ingenieur Robert F. Silber in ihr Leben tritt.
Im Zuge der Neuen Ökonomischen Politik (NÖP) in die Sowjetunion gekommen, um mit seinen Fachkenntnissen in der Textilfabrik von Rescheticha effizientere Produktionsabläufe einzuführen, wird Silber die dort seit Anfang der 1920er Jahre arbeitende Jelena als Assistentin an die Seite gestellt. Bald sind die beiden ein Liebespaar. Die Hochzeit folgt. Aus der Ehe gehen fünf Kinder, alles Mädchen, hervor.Vier von ihnen überleben die schwere Zeit, die die Familie in den dreißiger Jahren über Berlin wieder in Robert Silbers schlesische Heimat, nach Sorau, zurückführt. Von der Familie ihres Mannes mehr geduldet denn herzlich aufgenommen, bleibt Jelena – oder Elena, wie sie von nun an offiziell genannt wird – von nun an eine Fremde, wo immer sie auch hinkommt. Flucht folgt auf Flucht. Der Vormarsch der Roten Armee vertreibt die Familie ins sächsische Pirna und nachdem man schließlich im Ostteil Berlins gelandet ist, muss man fortan ohne den in den Wirren des Kriegsendes verschwundenen Ehemann und Vater auskommen.
Alexander Osang (Jahrgang 1962) hat zuletzt mit Comeback (2015) die fiktive Geschichte einer DDR-Band mit deutlichen Anklängen an die charismatische Tamara Danz und ihre Band „Silly“ geschrieben. Auch der außerordentlich ambitionierte Roman Die Leben der Elena Silber bedient sich der dort vorgeprägten nichtlinearen Erzähltechnik, mit welcher Vergangenheit und Gegenwart in eine spannungsvolle Beziehung gebracht werden. Denn um die Geschichten der Elena Silber und ihrer Familie zu erzählen, braucht es deren Enkel Konstantin Stein, das etwa ein Jahrzehnt jüngere Alter Ego Osangs, einen Filmemacher auf der Suche nach seinem Thema.
Die Histoire der Familie, der er entstammt, zu erforschen, ihren Mythen und Geschichten auf den Grund zu gehen, um sich selbst und sein in die Krise geratenes Leben im Berlin des Jahres 2017 besser zu verstehen, ist Konstantins Rechercheanlass. Im Roman umschreibt er das wie folgt: „Ich würde gern wissen, wo ich herkomme. Mein Vater verliert den Verstand, meine Mutter redet nicht. Die Familie ist groß, aber keiner spricht mit dem anderen. Was ist passiert?“ Um das herauszufinden, sucht Konstantin die Orte auf, die sich mit Episoden aus der Geschichte seiner Familie verbinden. Er reist an die ferne Oka in die Kindheitswelt seiner Großmutter, nach Moskau auf der Suche nach verschollenen Verwandten und ins polnische Zary, das einstige Sorau, aus dem sein Großvater Robert Silber stammt. In Gesprächen mit seinen Verwandten versucht er, die Wahrheit über seine Familie herauszubekommen. Und muss doch immer wieder einsehen, dass jeder Familienangehörige seine eigenen Geschichten pflegt, Geschichten, die nur allzu oft, jede für sich, genau solche Fluchten sind wie jene erste der Urgroßmutter mit ihren beiden Kindern.
Um seinen umfangreichen Stoff in den Griff zu bekommen, hat Osang die Handlung des Buches auf zwei Zeitebenen angesiedelt. Von Stationen in der Gegenwart gelangt man als Leser zu aus dem Strom der vergangenen Zeit herausgegriffenen markanten Jahren – von 1905 über 1918 und die Mitte der ’30er Jahre bis zu den letzten Kriegs- und ersten Friedensjahren –, um am Ende des Romans schließlich das Ineinanderfließen von Vergangenheit und Gegenwart zu erleben. Was dabei unter dem Strich entsteht, ist das spannungsgeladene Panorama eines ganzen Jahrhunderts. Osang erzählt Familiengeschichte episodisch als Weltgeschichte im Kleinen. Auch wenn Elena Silber und ihre Töchter schließlich im östlichen Berlin den Ort finden, an dem sie bleiben – wirklich heimisch wird die Titelfigur dieses Romans bis ans Ende ihres Lebens weder in der deutschen Sprache noch in ihrem neuen Leben in einer ihr für immer fremd bleibenden Umgebung.
Alexander Osang hat viel hineingepackt in dieses umfangreiche Buch über eine „zerzauste Familie“, wie er sie an einer Stelle nennt. Es geht um Wahrheit und Erfindung, Heimat und Fremde, Erinnern, Vergessen und Verdrängen – und immer wieder darum, was Menschen miteinander verbindet und wie dieses Verbindende, das aus einer gemeinsamen familiären Vergangenheit aufsteigt, die heute Lebenden auch lähmen kann. So ist der Urenkel von Viktor Krasnow, eines Kampfgefährten Lenins, einerseits von Stolz erfüllt auf den Mut dieses Mannes, der sich gegen Gleichgültigkeit stemmte und für ein besseres Leben in den Tod ging. Andererseits weiß er aber auch: „Seine Urenkel würden keine Revolution starten. Sie waren nicht mal in der Lage, eine Familie zu gründen.“
Die Leben der Elena Silber ist Osangs bislang persönlichster Roman. Wie der Autor kürzlich in einem Radio-Interview bekannte, hat ihn die von seiner Großmutter erzählte Geschichte über den grausam zu Tode gekommenen Urgroßvater zuallererst zu dem Buch inspiriert. Fragen wie „Wie ist die eigentlich durch ihr Leben gekommen? Wieso sind meine Tanten und meine Mutter und die Familie, so wie sie ist? Was sind eigentlich meine Dämonen?“ trieben ihn dazu, sich mit der Geschichte seiner Familie im 20. Jahrhundert zu beschäftigen. Dass seine über Jahre sich hinziehende Recherchearbeit schließlich nicht in ein autobiografisches Sachbuch mündete, sondern in einen Roman, der sich an etlichen Stellen von der eigenen Familiengeschichte bewusst entfernt, lag wohl zum einen daran, dass Osang es nicht vermochte, die vielen Leerstellen, auf die er bei seinen Nachforschungen und während des Schreibprozesses stieß, zu füllen. Andererseits ist dem zur Zeit als SPIEGEL-Korrespondent in Jerusalem arbeitenden Autor wohl schon früh das Exemplarische an seinem Stoff bewusst geworden. Das eröffnete ihm nicht zuletzt die Chance, historisch noch ein paar Jahrzehnte weiter zurückzugehen, als er das mit seinen bisherigen Romanen, die allesamt in der Zeit der deutschen Teilung und Wiedervereinigung spielen, getan hat, und sich auf die Suche nach den tieferen Ursachen des geschichtlichen Scheiterns jenes gesellschaftlichen Systems zu begeben, in dem er einst groß geworden ist.
![]() | ||
|
||
![]() |