Die ganze Wucht der Liebe
Albert Ostermaiers Gedichtband „Über die Lippen“ feiert die Vielfalt
Von Thorsten Schulte
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAlbert Ostermaiers neuer Gedichtband Über die Lippen handelt von der Liebe zweier Männer. Alles begann mit Berührungen der Knie unter dem Tisch, mit ersten Blicken und unter großer Vorsicht. Das lyrische Ich erlebt glückliche Tage, schwärmt von den einem Marmorbild gleichenden „angespannten muskeln“, küsst das Schlüsselbein des Geliebten. Doch es folgen Zögern und Zweifeln. Sie wollten sich in einem Hotelzimmer treffen. Er kommt nicht. Rauchend sitzt das lyrische Ich am Fenster und blickt auf den „leeren stuhl am morgen“. Die Suche nach Nähe steht der offensichtlichen Unfähigkeit, sie zuzulassen, gegenüber. Fehler werden einander zugeschrieben, Gefühle vergehen, das Abstürzen ist qualvoll. Und der Aufprall ist hart; Enttäuschung, Wut und Trauer wechseln sich ab. In eifersüchtigen Träumen sieht das lyrische Ich seinen Geliebten Hand in Hand mit einem anderen Mann. Syndetische Reihungen beschleunigen das Lesetempo. Fehlende Interpunktion, Hypotaxen und starke Zeilenumbrüche verlangsamen das Tempo wieder. Das Spiel mit der Geschwindigkeit wirkt mitreißend. Ein hoher Identifikationswert kommt hinzu, weil es unerheblich ist, ob ein Mann oder eine Frau begehrt werden. Die Gleichstellung erfolgt mit einem seltenen Klammerzusatz: „ein bild von einer frau/ (einem mann)“. Der Leser fühlt die Liebe, die Anziehungskraft des Geliebten, die Enttäuschung und Abstoßung. Leidenschaftlich wird das Ich hingezogen, mit Wucht wird es zum Loslassen gezwungen und bis in die Nähe des Suizids geworfen.
Das lyrische Ich richtet sich an den Geliebten und nicht direkt an den Leser, aber man könnte meinen, es kommentiere die Kraft der Gedichte, wenn es ausruft: „mein redeschwall/ wirft dich gegen die felsen“ – und: „ich reibe meine sprache/ an dir bis deine haut glüht“. Leidenschaftliche Hitze entfaltet sich und äußert sich mal in Lust, mal in unbändiger Wut und Trauer. Zum Ende der logischen Ketten folgt eine eloquente Stille. Sie bietet bei Ostermaier stets den Raum für einen Neubeginn. So will das Ich mit Erlebtem abschließen und klickt im Handy an: „kontakt blockieren“. Dass Mobiltelefone das Leben und auch die Kommunikation Liebender verändert haben, ist hinreichend bekannt. Es ist kaum noch vorstellbar, wie Vorlieben und Eigenschaften ohne die Überprüfung von Profilen in sozialen Netzen herauszufinden sein könnten („wem folgst du dem/ ich folgen muss“). Ostermaier zeigt, dass der Diskurs der Liebe keinesfalls einfältig ist – auch nicht unter den Rahmenbedingungen des schnelllebigen 21. Jahrhunderts. Er greift mit seinem Gedichtband zwar auf die Fragmente einer Sprache der Liebe von Roland Barthes zurück, zitiert ihn und begeht einen ähnlichen szenenhaften Weg, um das Ganze der Liebe abzubilden. Sein Schwerpunkt liegt jedoch auf der Überwindung der Distanz zum Leser. Verschiedene Formen der Wortwiederholung – Anadiplosen und Epanalepsen – heben die Höhepunkte aus dem rasanten Sprachfluss hervor. Sie dienen dazu, die Verortung im Hier und Jetzt zu betonen. Im Gegensatz zu Barthes wird in den Gedichten Ostermaiers dem lyrischen Ich seine Identität nicht abgesprochen. Dem Dichter gelingt es mit einer erfrischenden Selbstverständlichkeit, die moderne Kommunikation in seine Verse zu integrieren, Nirvana zu zitieren, sogar einen Bezug zu Alan Walker zu finden und die gesellschaftliche Realität abzubilden.
Wer erfahren möchte, welche Sprengkraft Liebesgedichte im 21. Jahrhundert entfalten können, dem sei Albert Ostermaiers Gedichtband Über die Lippen anempfohlen. Es ist die Vielfalt, die die Liebe in unserer Zeit ausmacht – die Möglichkeiten, die uns die modernen Kommunikationsmittel bieten, die Offenheit der Gesellschaft. Über die Lippen feiert die Vielfalt mit einem rauschhaften Strom der Gefühle.
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