Über ganz normale außerordentliche Menschen

Siegfried Lenz erzählt in „Dringende Durchsage“ humorvolle und staunenswerte Geschichten

Von Thorsten PaprotnyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Paprotny

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vor mehr als zehn Jahren verstarb Deutschlands vielleicht beliebtester, aber niemals volkstümlicher Erzähler Siegfried Lenz hochbetagt. Der in Masuren geborene Schriftsteller, ein hanseatischer Menschenfreund, entfaltete in seinem Werk einen Kosmos literarischer Gestalten, die sich durch die Wirrnisse der Zeitläufte, oft gezeichnet durch ihre Herkunft und die Geschicke ihres Lebens, ihre charakterliche Integrität und ihren zarten, sensiblen Humor bewahrten. Lenz schrieb niemals betulich, stets fein nuanciert und ohne moralinsaure Attitüde. Nun sind, überwiegend aus dem Nachlass, Erzählungen publiziert worden, einige verfasst für Zeitungen in den 1950er Jahren, die dem Lesepublikum von heute unbekannt sind.

Lenz erzählt von Wehmut, doch niemals sentimental, etwa wenn eine frühe Erzählung mit dem Titel „Heimweh“ versehen wird, so fügt er doch sogleich an „oder so etwas Ähnliches“. Einem Uhrzeiger im Bahnhof wird humorvoll eine gewisse bürokratische Pedanterie zuerkannt. Inmitten eines regen Treibens starrt Sobottka, verloren, auch vereinsamt, auf die Uhr und fragt sich, wie lange er auf den Zug noch warten muss, selbstverständlich „geduldig“. Der Erzähler hat diese vergessene Person im Blick, ringsum ihn herrscht Trubel, viele Reisende „drängten sich zur Sperre, riefen, schimpften, lächelten und sich“, aber niemand schenkt ihm Beachtung. Menschen wie ihm schenkt Siegfried Lenz sein ganzes Werk hindurch Aufmerksamkeit und schildert dabei zugleich die Umstände der Zeit, im Wissen darum, dass Stimmung und Atmosphäre sehr wohl erlebt, doch niemals künstlich hergestellt werden können: „Die Stadtverwaltung hatte in der Bahnhofshalle einen Tannenbaum aufstellen lassen, zum Zeichen, dass ein großes Fest bevorstand und alle Menschen fröhlich zu sein hätten. Es freuten sich aber nur einige Kinder.“ Weihnachtet es also schon sehr? Nein, es weihnachtet überhaupt nicht, die fröhlichen Kinder seien davon ausgenommen, es herrscht nur ein geschäftiges Treiben, Unrast, Unruhe, dazu Sobottka: „Der Mann sah aus, als ob er mehrere Jahre nicht zu Hause gewesen war, und in der Tat traf dies auch zu, denn Sobottka war erst vor einigen Wochen, und zwar zu Weihnachten, aus einem Lager entlassen worden, das ungefähr 154 km hinter dem Rücken der Welt lag.

Siegfried Lenz erzählt mit sanfter Melancholie und beschreibt mit wenigen Worten, kurzen Impressionen die Umrisse einer ganzen Lebensgeschichte, die nicht auserzählt, aber doch auf unvergessliche Weise angedeutet und skizziert wird. Die Traurigkeit in der Welt jedoch durchbricht ein leiser, sanfter Humor, auch wenn besonders in den ersten Erzählungen der Nachkriegszeit, nicht verwunderlich, das Grauen des Krieges sicht- und spürbar wird:

Das Alte war vergessen; das Neue, das hereinbrechen sollte, unbekannt. Es war die sinnbildhafte Situation der Krise: der Mensch lebt ohne Entscheidungen, weil ihm die Möglichkeiten zu Entscheidungen fehlen. Zwischen jähem Schock und jähem Vergessen bleibt nur die Wahrnehmung einer einzigartigen Leere.

Die „Katakombenluft“ ist noch nicht präsent, die „obligatorische Injektion Nihilismus“ hat so gut wie jeder Zeitgenosse empfangen. Aber inmitten der Krise zeigen sich Hoffnungsschimmer. Ist die Lage noch so ernst, wie sie verbreitet wahrgenommen wird? Oder scheint durch die „Trümmerritzen“ schon die Ahnung eines Neuanfangs hindurch? Die „Himmelsleitern des Wirtschaftswunders“ nahen, die „Stunde Null“ vergeht. Nicht jeder bemerkt dies sofort, aber die Zeit geht weiter. Die Freude an zwischenmenschlichen Beziehungen und an den Aussichten auf solche, die es geben könnte, stellt sich ein, wenn ein junger Mann eine junge Frau erblickt oder umgekehrt, wie ein Zeitungsleser dem ein „unerhört schlankes Mädchen“ begegnet, das wundersam von Goethes „Torquato Tasso“ erzählt, während der frisch verliebte junge Mann nichts davon versteht und doch von ihr so betört ist, wie er nur sein kann. Wird die Liebesgeschichte gut ausgehen? Lenz erzählt davon frisch und kurz, ja, die Hoffnung darauf scheint begründet zu sein. Auch Lydia darf hoffen, eine Schauspielerin, die eine „Augenweide“ sei, „und was ihr an Talent fehlt, besitzt sie an Jugend“, beraten von der geschäftstüchtigen Mutter, die jede ihrer Gagen „nach oben abrundet“. Als sanfter Humorist, der nicht unbeschwert, aber bisweilen versuchsweise frohgemut erzählt, erweist sich Siegfried Lenz in diesen neu entdeckten Geschichten und Erzählungen, die für viele Leserinnen und Leser möglicherweise wie eine literarische Flaschenpost einer bereits lange vergangenen Zeit anmuten.

Der Schriftsteller verzichtet stets auf einen rauen Ton, auf grelle Äußerungen und spöttischen Sarkasmus. Er würdigt auch die Niederlagen, die Enttäuschungen, mit Herzlichkeit und Mitgefühl. Lenz liefert niemanden aus, stellt niemanden bloß, er beschreibt seine Gestalten farbig, milde und mit Wohlwollen. Dieses Wohlwollen lässt sich spüren, manchmal förmlich ertasten. Viele seiner Charaktere bewegen sich noch durch Trümmerlandschaften der Zeit. Sie trauen verständlicherweise auch nicht oder nicht ganz der Blüte des Wirtschaftswunders. Einige Gestalten bleiben kantig und knorrig, skeptisch und abwartend, und so dürfen sie auch sein und bleiben. Der Erzähler Siegfried Lenz war zwar politisch engagiert, wie Günter Grass bekennendes Mitglied der SPD, aber er war in seinem literarischen Werk zu keiner Zeit der Gesandte der parteiischen Weltgestaltung, sondern eher ein Bote aufrichtiger Sympathie mit seinen Mitmenschen. Dieser Band lädt dazu ein, das Werk von Lenz wieder oder neu zu entdecken. 

Titelbild

Siegfried Lenz: Dringende Durchsage. Erzählungen.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2024.
192 Seiten , 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783455018233

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