Gut geschrieben, aber leider am Thema vorbei
Thomas Kraft stellt in seinem neuen Buch einige „Dichter-Freunde“ vor, erzählt aber zu wenig von der Freundschaft selbst
Von Georg Patzer
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEiner der berühmtesten Essays von Michel de Montaigne heißt Über die Freundschaft. Darin beklagt der Philosoph und Bürgermeister von Bordeaux den Tod seines engen Freundes Étienne de la Boetie, er spricht von Verschmelzung und Doppelgängertum, und von den Schmerzen, die der Verlust eines wahren Freundes mit sich bringt.
Mit diesen großen Worten beginnt der bekannte Literaturwissenschaftler Thomas Kraft sein Vorwort zu seinem neuen Buch, Dichter-Freunde, in dem er einige literarische Freundespaare des 20. Jahrhunderts vorstellt: Bert Brecht und Oskar Maria Graf, Hermann Hesse und Peter Weiss, Robert Musil und Franz Blei, Thomas Mann und Jakob Wassermann, Edgar Hilsenrath und Jakov Lind, Christian Morgenstern und Michael Bauer, Günter Grass und Dieter Lattmann und als einzige Frauen Sarah Kirsch und Christa Wolf.
Es ist ein materialreiches, gut geschriebenes, faktengesättigtes Buch, das von den Reformbewegungen um 1900 erzählt, von der erzwungenen Emigration vieler Autoren nach 1933, von der unterschiedlichen Nähe von Autorinnen zum DDR-Regime oder vom politischen Engagement westdeutscher Autoren in den Wahlkämpfen der SPD.
Sehr ausführlich und detailgenau erzählt Kraft sowohl die literarischen Eigenheiten, Stärken und Schwächen mancher Autoren, etwa von Morgensterns humoristischen Versen, seinen „Galgenlieder[n]“, die eigentlich nicht zur Veröffentlichung vorgesehen, sondern für einen kleinen Kreis geschrieben worden waren. Sie hatten dann aber bei Lesungen im Schwabinger Kabarett Überbrettl so einen großen Erfolg, dass er sie 1905 doch noch publizierte. 13 erschöpfende Seiten lang referiert Kraft Morgensterns Leben. Erst dann kommt er auf Morgensterns Freund Michael Bauer zu sprechen, den er im esoterischen Kreis um Rudolf Steiner kennenlernte: Steiner hatte sowohl Bauer als auch dem Ehepaar Morgenstern für eine Kur den Ort Portorose an der Adria empfohlen und ihnen sogar eine Meditation vorgeschlagen, die sie zu dritt durchführen sollten. Es folgen drei Seiten über die gemeinsame Zeit bis zu Morgensterns Tod ein Jahr später: „Jeden Abend führten sie Gespräche an Morgensterns Krankenbett über ‚ernste Welt- und Lebensfragen.‘ Morgenstern schrieb später über Michael Bauer an seinen Jugendfreund Friedrich Kayssler: ‚Du kannst Dir wohl denken, dass zwei Frühlingsmonate, im intimen Umgang mit einem solchen Menschen verbracht, etwas ganz Besonderes bedeuten.‘“ Was aber genau das Besondere war, was das Wesen dieser Freundschaft, welchen Inhalt, welche Bedeutung sie hatte, erzählt Kraft leider nicht.
Ähnlich ist es in vielen anderen Kapiteln. Über Bert Brecht erfahren wir sehr viel, über seine Theaterstücke, seinen Welterfolg mit der Dreigroschenoper, über seine Affären und seine Flucht aus Deutschland. Kraft erzählt etliches über das Leben der Emigranten in der Tschechoslowakei, in Österreich, Holland und Amerika, über die Politik der Zeit, der Nationalsozialisten wie der Briten und der Amerikaner. Und auch über Oskar Maria Graf erfahren wir sehr viel Lesenswertes und für manche sicher Unbekanntes, sein Engagement in der Münchner Räterepublik und für die Emigranten. Über eine Freundschaft der beiden Autoren lesen wir wenig. Nur dass sie sich wenig Briefe geschrieben haben, sich nur sehr selten, und dann eher zufällig trafen. Dass sie gemeinsame Bekannte hatten wie Sergei Tretjakow und dass sie teilweise unter denselben bedrohlichen Umständen litten wie viele andere Emigranten. Aber der Begriff Freundschaft scheint auch hier nicht ganz passend zu sein.
Eher schon beim Verhältnis zwischen Peter Weiss und Hermann Hesse, der für den über 30 Jahre Jüngeren ein väterlicher Freund wurde. 1916 geboren, weiß Weiss schon früh, dass er Maler oder Schriftsteller werden will – er wurde beides. 1933 musste die Familie aus Deutschland emigrieren, 1937 schreibt er aus dem böhmischen Warnsdorf einen ersten Brief an den von ihm bewunderten Hesse und bittet ihn um Rat, was er tun solle, „wenn man weniger mit seinen Gedanken im heutigen Tun und Treiben mit all seinem Motorengedröhn und der Unterhaltungsmusik steht, als in romantischen Gefilden. Ich suche also einen Weg und kann ihn nicht finden.“ Seinem Brief legt er ein über einhundertseitiges, illustriertes Manuskript mit dem Titel „Skruwe“ bei. Hesse antwortet schnell und wohlwollend und verweist ihn an seinen Verleger Gottfried Bermann Fischer: „Es ist viel Schönes und Versprechendes darin, aber hier fehlt es noch an Selbständigkeit, man fühlt die literarisch-romantische Atmosphäre stark, aber man fühlt auch die Vorbilder und Anregungen.“ Weiss‘ Kunst sprach ihn mehr an, und Hesse riet ihm: „Ich wünsche, Sie möchten Ihren Weg finden. Geht es mit dem Zeichnen nicht, so müssten Sie einen andern, gewöhnlichen Broterwerb suchen – nicht aus Ihrer Dichtung Brot zu machen suchen! Nur dies nicht!“
Mehrfach schreibt ihm Weiss, besucht ihn 1937, ohne sich angekündigt zu haben, lebt später mehrere Monate in der Nähe. Hesse, den er mit „Meister“ anredet, fühlt sich geschmeichelt und findet, Weiss sei „ein netter Mensch, allgemein begabt und sympathisch, im Künstlerischen noch ohne Bestimmung“. Später unterstützt Hesse ihn mit Illustrationsaufträgen und vermittelt ihm wichtige Kontakte. Später bricht der Kontakt ab. 1961 schickt Weiss ihm ein Exemplar seines Buchs Abschied von den Eltern, Hesse lobt es öffentlich als „ebenso prachtvolles wie schreckliches Buch, das jeden Leser ergreifen und tief bewegen muss. Rein literarisch ist es vollkommen, Gedächtnis und Beobachtungsgabe von ungewöhnlicher Genauigkeit treffen da mit einem Sprachgewissen zusammen, dessen Sauberkeit und Intensität man lieben muss.“ 1962, kurz vor Hesses Tod, besucht Weiss ihn noch einmal.
Sehr unterschiedlich behandelt Kraft seine „Freundes“-Paare, bei denen manchmal die Freundschaft fast nur darin bestand, dass sie sich gegenseitig respektieren und öffentlich nichts Böses übereinander sagten, wie Thomas Mann über Jakob Wassermann. In manchen Fällen wie bei Kirsch und Wolf ist der Kontakt lang und intensiv: Sie tauschen sich über die politische Situation in der DDR aus, aus jeweils anderer Warte, über den Fall der Mauer und die anschließende Wiedervereinigung stritten sie miteinander, bis ihre Freundschaft zerbricht: „Christa Wolfs Träumen von einer reformierbaren DDR, einem utopischen Sozialismus konnte Sarah Kirsch nicht mehr folgen“. Und die Stasi-Vorwürfe und Wolfs Umgang damit lassen Kirsch verstummen. 1992 schreibt sie noch einmal, aber nicht an Christa, sondern an ihren Mann Gerhard Wolf. Er antwortet nicht.
Am Schluss seines Buchs schreibt Kraft nicht mehr über Freunde, sondern über Gruppen: einmal die um die verdienstvolle AutorenEdition, die in den 1970er-Jahren bei Bertelsmann erscheint, in der die Autorin Hannelies Taschau und die Autoren Uwe Friesel, Uwe Timm und Richard Hey mit dem Cheflektor entscheiden, welche Bücher in diesem Verlag erscheinen sollen. Und zum anderen über „Thomas und die Pop-Literaten“, dieses Kapitel beginnt mit den Worten „Thomas Bernhard starb am 12. Februar 1989. Es darf vermutet werden, dass ihm keiner der jüngeren Autoren, die ihn bis heute verehren, persönlich begegnet ist.“ Von einer Freundschaft irgendeiner Art kann hier keine Rede sein.
Zwei Sachen seien noch bemängelt: Zum einen gibt es keinerlei Zitatnachweise, was nicht nur unwissenschaftlich ist, sondern auch schade, weil man in manchen Fällen seinen Hinweisen doch gern nachgehen würde. Und zum anderen erklärt er nie die vielen, vielen Namen, die er manchmal auch nur en passant erwähnt, und geht auch über manche historischen Fakten wie in seiner Beschreibung des Kaspar-Hauser-Skandals anlässlich des Buchs von Jakob Wassermann etwas arg schnell hinweg. Als literarische Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert ist Dichter-Freunde eine wahre Fundgrube, als Geschichte von literarischen Freunden bleibt es leider weit hinter dem Anspruch seines Autors zurück.
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