Der Weg zum Friedhof
Petrus Nouwens über Hans Jürgen Syberbergs „Projekt Nossendorf“
Von Lutz Hagestedt
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDer Weg zum Friedhof lief immer neben der Chaussee, immer an ihrer Seite hin, bis er sein Ziel erreicht hatte, nämlich den Friedhof. Er war leicht mit Kies bestreut, was ihm den Charakter eines angenehmen Fußpfades gab. Später, zu DDR-Zeiten, wurde der Pfad überbaut – den Weg zum Friedhof gibt es nicht mehr.
Dies war die Ausgangslage des „Projekts Nossendorf“. Im Jahre 2000 kehrte Hans Jürgen Syberberg in seinen Geburtsort in Vorpommern zurück. Zu DDR-Zeiten war ihm dieser „Ort der letzten Unschuld“, nämlich der Kinderjahre 1935 bis 1947, nicht zugänglich gewesen. 1947 war der Vater enteignet und von seinem Gutshof vertrieben worden, die Familie zog nach Rostock. 1952 konnte Syberberg bei Brechts Spielleiter Benno Besson die Proben zu Molières „Don Juan oder der steinerne Gast“ am Rostocker Volkstheater filmen und erhielt eine Einladung ans Berliner Ensemble. Dort durfte der erst Siebzehnjährige 1953 drei Brecht-Inszenierungen filmisch begleiten: „Herr Puntila und sein Knecht Matti“, „Urfaust“ und „Die Mutter“. Von Brecht, der in der DDR „zunehmend als Dissident wahrgenommen“ wurde, führte ihn der Weg nach Westdeutschland, wo Syberberg studierte und promovierte und Filmemacher wurde.
Etwa ein Jahrzehnt nach der Wende wurde Nossendorf zum Ort der „zweiten Unschuld“, eines Kunstgriffs: Syberberg erwarb von der Treuhand den verwaisten väterlichen Besitz und richtete den elterlichen Hof akribisch wieder her, Kindheit simulierend. Er tat dies teils auch mit finanzieller Unterstützung Bernd Eichingers, der ihm half, die alte Scheune für Konzerte des Festspielsommers herzurichten. Der eigentliche Antrieb aber war: den Weg zum Friedhof wiederherzustellen. Darüber hinaus die Kirche zu sanieren, um dem Dorf sein Zentrum zurückzugeben: ein Kindheitstraum, von einem jugendlichen Alten geträumt. Doch der einzige gebürtige Nossendorfer erfuhr auch Widerstand, wurde er doch von einigen sogleich als ‚Wessi‘ wahrgenommen und ‚als Eindringling von zweifelhafter Mission‘ argwöhnisch beäugt. Aber Syberberg ließ sich nicht irritieren: Er blieb und überzeugte die Wohlmeinenden, wenn er sich mit altersblankem Gehrock und Beinkleidern, die sowohl zu weit als auch zu lang schienen, auf der Chaussee zeigte, um den Dörflern von seinem Traum zu erzählen. Wenn er seinen Kopf erhob, was er zuweilen tat, bekam man ohne Frage einen entschlossenen Gesichtsausdruck zu sehen, den man nicht so schnell wieder vergaß. Bald schon wurde an der Kirche gearbeitet, wurden mit bescheidenen Mitteln die Spuren von Vernachlässigung und Verwahrlosung aus vierzig Jahren DDR-Wirtschaft nach und nach beseitigt. Nur der Weg zum Friedhof blieb überbaut, denn menschliche Wohnungen waren hier entstanden.
War es einst elend um Nossendorf bestellt gewesen, elend auch um den elterlichen Gutshof, der unter Feuer und Verfall gelitten hatte, so kehrten nun wieder Spielfreude und Kultur ins Dorf zurück. Mit dem Rumor um den berühmten Namen stellten sich Festspielgäste ein, Cineasten besuchten den alten Herrn mit den phantastischen Augenbrauen und versicherten ihn ihrer lebhaftesten Sympathie. Ein junger Mann, ein unbesorgter Promovend aus Amsterdam, kam daher wie das Leben selbst und sprach vor, um Syberbergs „Modell Nossendorf“ in einer Dissertation darzustellen und mit seiner Produktionsästhetik zu verknüpfen. So verging eine kleine Weile, historische Fotografien des Genius loci wurden geborgen und ins Netz gestellt: „Noch immer sehe ich das von vielen Plünderern durchwühlte Haus mit den ausgeleerten Schubladen, zerstörten Bildern von den Wänden und bestohlen von jedem, der vorbeikam. Die Alben des Vaters aber lagen unter der Treppe, hinter einer Zwischenwand, die allein der Stellmacher kannte, der sie nächtens heimlich gemacht, wo das Wichtigste verborgen war an Dokumenten, worunter eben diese Bilder des früheren Lebens zählten.“
Die Dissertation wurde geschrieben und im Januar 2012 in Amsterdam erfolgreich verteidigt. Sie ist nunmehr überarbeitet als Buch erschienen und stellt die erste größere Werkmonographie zu Syberberg überhaupt dar: „Das Modell Nossendorf“ unternimmt den Versuch darzustellen, „wie aus bescheidenen Produktionsmitteln eine eigene Ästhetik entsteht“, die in Konkurrenz „zu anderen zeitgenössischen Kunstproduktionen steht“. Jüngster Ausdruck dieser Arte povera ist Syberbergs Website, die den Weg von und nach Nossendorf in tagesaktuellen Aufnahmen und Einträgen dokumentiert: „Nossendorf, das Dorf meiner Kindheit in Pommern. Im Zentrum der Überlegung steht die Wiederherstellung eines Gedächtnisorts. […] Dargestellt mit den technischen und ästhetischen Mitteln, die aus dem Kino und dem Internet hervorgegangen sind. Von dort aus trägt alles zu einer einzigen Frage bei: Wie heilt man diese offenen Wunden der jüngsten Geschichte?“
In seiner Dissertation rekonstruiert Petrus Nouwens das Projekt eines produktiven Mittlers im „wilden Osten“ Deutschlands, dem es darum geht, aus dem „Nichts der Vernichtung“, dem DDR-Grau – und -Alltag, „neue Orte“ zu schaffen, diesen Schaffensprozess zu dokumentieren und zu archivieren und das so entstehende „Archiv des Abseits“ im World Wide Web „verfügbar“ zu machen (alles O-Töne Syberbergs in dessen – klug als Einstieg gewählten – „Sommergedanken“). Verfasser Nouwens bestimmt nun den kulturellen, intellektuellen, künstlerischen, geistesgeschichtlichen, historischen und persönlichen, autobiografischen, werkimmanenten Ort dieses perennierenden Projektes, das zwar weitgehend ohne Budget auskommen muss, gleichwohl aber eine Ästhetik entfaltet. Eine Schönheit, die niemals protzt und doch ihre reizvollen Schauseiten hat. Es ist das Verdienst von Petrus Nouwens, diesen „Modellfall“ mit einer kultur- und medienwissenschaftlichen Perspektive versehen zu haben. Zugleich wird diese quasi auf Dauer gestellte, quasi performative Kunst-Demonstration Syberbergs mit einer aktuellen Ästhetik („Film nach dem Film“) und mit Syberbergs paradoxalen Selbstaussagen korreliert: Hier, so das Postulat, entsprächen den „Räumen“ weder „Ort“ noch „Zeit“, sei das „Modell Nossendorf“ in einem „realen Raum der Fiktion“ angesiedelt.
Die „historiografische“ Darstellung fächert sich zur Werkmonografie auf, die vom frühen bis späten Syberberg (fast) alles umfasst, wobei ein „orts- und zeitunabhängiges Assoziationsspiel“ entstehen soll. Aber erst die Zuordnung von Raum und Zeit, des privaten und historischen „Handlungsgefüges“, der politischen und sozialen Ereignisgeschichte, erst die Verrechnung des künstlerischen Potenzials mit der „undramatischen“ Figur Syberberg beglaubigt das Modell und ergibt für den Betrachter Sinn. Syberbergs Projekt wird pure Anschauung der Praxis, von der Idee getragene Materialität, die sich bewusst in der Realität als nachahmenswertes Beispiel manifestiert – erfahrbar in der sanierten Dorfkirche, wo der Filmemacher dem Maurer zeigen muss, wie die Steine zu setzen sind. Engagement für die eigene Geschichte und Spurensuche des Selbst münden in selbstloses Engagement für die Gemeinde, in der nur konkrete Sachverhalte die allgemeinen Vorurteile zu vertreiben vermögen: Vor die Theorie des kommunikativen Handelns hat Syberberg die Praxis gesetzt, vor die Rede die Tat, vor das Theater die Wirklichkeit. Als einziger gebürtiger Nossendorfer steht er für die Neubürger ein, die „Flüchtlinge“ (im DDR-Jargon „Umsiedler“) und Zuzügler, die befähigt werden sollen, sich „in Bezug auf die junge deutsche Geschichte selbsttätig zu überdenken“. Denn wo Individualität an die Stelle einer „Gleichmachergesellschaft“ tritt und höchste und subtilste Differenzierungen zulässt, da lässt die Gesellschaft den Einzelnen gewähren und gewinnt ihn vielleicht, sich (dereinst) für sie einzusetzen: „Der Blick des Kindes aus dem Fenster in Nossendorf spielt als repetitives Motiv eine wichtige Rolle im Tagebuch auf der Webseite von Syberberg. […] Der Blick des Kindes in die Zukunft ist dabei maßgebend, Fülle und Ahnung dessen, worum es geht.“
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