Blicke hinter die Kulissen der Macht

Claudia Piñeiro entlarvt in „Der Privatsekretär“ den Politikbetrieb, nicht nur von Argentinien

Von Michi StrausfeldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michi Strausfeld

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Verwünschungen, Verfluchungen – so lautet der wörtlich übersetzte spanische Originaltitel dieses Romans, der als Thriller bezeichnet wird – ein Zugeständnis an die Verkäuflichkeit. Krimis und Thriller haben nämlich seit Jahren viel bessere Chancen, gut vermarktet zu werden, da sich das Leserinteresse enorm gesteigert hat. Daher haben die meisten Verlage ihre anfängliche „Nischenproduktion“ deutlich ausgebaut. Woran liegt das? An der leichteren Lesbarkeit? An der Omnipräsenz von Krimis in den TV-Programmen, die einem Tsunami gleichen? Dass viele Autoren die Möglichkeit nutzen, mittels eines unverfänglichen Unterhaltungsgenres auf Missstände in der Gesellschaft hinzuweisen?

Dies jedenfalls trifft für die meisten Autoren Lateinamerikas zu, die sich in den letzten 20–30 Jahren dieser literarischen Gattung zugewendet haben. Bei Leonardo Padura erfahren wir im inzwischen zu einem Quintett angewachsenen Zyklus um den Kommissar Mario Conde von der Entwicklung Havannas und Kubas – Ergebnis ist u.a. eine brillante Gesellschaftsanalyse. Ähnliches gilt für Claudia Piñeiro, die die argentinischen Zustände genau unter die Lupe nimmt. In inzwischen acht Büchern kombiniert sie wichtige Themen und Probleme (viele ihrer Protagonisten sind Frauen) mit persönlichen Erfahrungen und Schicksalen und es gelingt ihr dabei, selbst die finstersten Machenschaften ironisch und mit bitterbösem Humor zu entlarven.

Lateinamerika hat immer Sonderwege eingeschlagen in der Literatur. Jahrzehntelang waren Leser der ganzen Welt fasziniert vom „magischen Realismus“, andere begeisterten sich für die phantastische Literatur und lernten in den grandiosen Erzählungen von Borges das Aleph oder Tlön, Uqbar, Orbis Tertius kennen oder erkundeten mit Cortázar das Phantastische um 12 Uhr mittags. Der „historische“ Roman mutierte zum „neuen historischen Roman“, deren Erfolge der nordamerikanische Literaturwissenschaftler Seymour Menton bereits in einer ausführlichen Studie gewürdigt hat. Für den Krimi/Thriller aus Lateinamerika sind vergleichbare Entwicklungen vom „traditionellen“ schwarzen Roman zu einem „neuen Krimi“ festzustellen – die bislang aber noch nicht gründlicher untersucht wurden. Ein sicher spannendes Forschungsthema.

Was also bietet Der Privatsekretär? Auch hier ist ein Tod – die Frau des ehrgeizigen Kandidaten Fernando Rovira, der Gouverneur von Buenos Aires werden will, stirbt bei einem Verkehrsunfall – letztlich nur ein Vorwand, aktuelle politische Zustände in Argentinien aufzurollen. Rovira hat eine neue Partei gegründet, PRAGMA, dessen Namen bereits die Alarmglocken klingen lässt. Sie ist eine Mischung aus Pragmatismus, Marketing, Manipulation, Skrupellosigkeit und unbändigem Machtstreben, möchte eine „neue Politik“ begründen, eine Art Postpolitik (was jetzt in vielen Ländern versucht wird). Privatsekretär ist der junge Román Sabaté, der für viele Aufgaben zu Diensten stehen muss – auch für solche, die nichts mit der Politik zu tun haben (und hier nicht verraten werden sollen). Allmählich durchschaut er viele der dunkelsten Seiten der Macht, die besoffen oder blind macht, und für viele Politiker zu einer Droge geworden ist: Sie sind süchtig. 

Aber Rovira hat ein Problem, denn er leidet unter dem „Fluch der Alsina“, einer seit 1882 verbreiteten Mär, und ist davon überzeugt, dass er die Macht nicht erreichen kann, wenn die Provinz von Buenos Aires nicht geteilt und La Plata eigenständig wird. Seine Mutter Irene, die ihn alleine erzog, ist eine Seherin und steht ihm stets hilfreich zur Seite, entfernt alle störenden Energien. Aberglaube ist in der argentinische Politik keine Unbekannte, und die Autorin zeigt genüsslich auf, wie viele Politiker Dienste von Wahrsagerinnen, Quacksalbern und Heilerinnen in Anspruch genommen haben: Franco, Hugo Chávez, Jordi Pujol, Juan Perón usw. Dessen finsterer „Hexer“ López Rega gründete die „Antikommunistische Allianz Argentiniens“, die berüchtigte Triple A, die während der Militärdiktatur von 1976–1983 tausende Menschen foltern, ermorden oder verschwinden ließ

Die junge Journalistin Valentina Sureda recherchiert über den „Fluch der Alsina“ und erkennt immer neue Zusammenhänge, sie möchte ein Buch darüber schreiben. Für ihre Arbeit und das Buch braucht sie auch den Kontakt zu Rovira und lernt daher seinen engsten Mitarbeiter kennen. Román Sabaté entwickelt immer mehr Zweifel an seinen diversen Aufgaben, wie sind Moral und Politik vereinbar? Auf einer Busreise vom Landsitz seines Vorgesetzten nach Hause erläutert ihm die Sitznachbarin, eine Lehrerin, das Verhältnis von Herr und Knecht, so wie es Hegel festgehalten hat. Darüber denkt er lange nach, redet auch mit seinem besten Freund darüber.

Nach dem Unfalltod von Roviras Frau überstürzen sich die Ereignisse, die Spannung steigt. Sabaté flüchtet mit dem kleinen Sohn des Ehepaares, den er immer liebevoll umsorgt hat, sucht Schutz bei seinem Onkel, einem überzeugten Anhänger des früheren und „anständigen“ Präsidenten Raúl Alfonsín: Ein Augenzwinkern zur argentinischen Geschichte. Seine Politik geriet damals nicht zum Kriminalfall, wie es bei dem Kandidaten Rovira möglicherweise der Fall ist…

In einem furiosen Finale werden der „Fluch Alsinas“ und das Schicksal Sabatés verbunden und dienen der Journalistin als Scoop, der das Land aufrüttelt. Die Autorin führt alle Handlungsstränge scheinbar mühelos zusammen und hält den Leser in Bann. Möglicherweise stellt er aber bei der Lektüre fest, dass vieles, was er hier über zynisches Machtstreben, Lügen und Korruption erfahren hat, problemlos auf andere Länder und Politiker übertragen werden kann. Claudia Piñeiro, die in Argentinien dank ihrer aktiven Beteiligung am politischen Geschehen längst als moralische Instanz gilt, hat mit diesem facettenreichen Bestseller wiederum ein großartiges, sehr lesenswertes Buch vorgelegt: Einen „neuen“ Krimi bzw. Thriller!

Titelbild

Claudia Piñeiro: Der Privatsekretär. Thriller.
Aus dem Spanischen von Peter Kultzen.
Unionsverlag, Zürich 2020.
314 Seiten , 13,95 EUR.
ISBN-13: 9783293208827

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