Politik und Poetik
In dem Juli Zeh gewidmeten Band von TEXT+KRITIK versammelt Heinz-Peter Preußer Beiträge zu zentralen Themenfeldern ihres Werks
Von Thomas Merklinger
In den mehr als 20 Jahren seit der Veröffentlichung ihres Debütromans Adler und Engel 2001 hat sich Juli Zeh zu einer vielgelesenen Autorin und öffentlichen Intellektuellen entwickelt, die nicht nur regelmäßig Bestseller produziert, sondern auch eine prominente Stimme innerhalb des gesellschaftlichen Diskurses hat. Sie taucht regelmäßig in den deutschsprachigen Feuilletons auf und auch die germanistische Literaturwissenschaft sowie die Literaturdidaktik haben sich schon recht früh für sie interessiert. Ihre Werke werden an Universitäten verhandelt und im Deutschunterricht gelesen; Corpus Delicti etwa ist in mehreren Bundesländern ein Schwerpunktthema im Abitur.
Die Zeitschrift TEXT+KRITIK widmet ihre 237. Ausgabe (I/23) nun Juli Zeh und setzt damit die Reihe der wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit ihrem Werk in Form von Sammelbänden fort. Aus literaturdidaktischer Perspektive liegen ein Themenheft von Literatur im Unterricht (3/2017) vor sowie eine 2020 von Jan Standke herausgegebene Aufsatzsammlung. 2021 haben Klaus Schenk und Christina Rossi in der edition text+kritik einen Aufsatzband herausgegeben (Juli Zeh. Divergenzen des Schreibens) und im Frühling vergangenen Jahres fand eine Tagung mit dem Titel Text und Engagement. Das literarische Werk Juli Zehs statt, die von Viola Völlm (Deutsches Literaturarchiv Marbach) und Erik Schilling von der Ludwig-Maximilians-Universität München organisiert worden ist.
Ein Blick in diese bereits erschienenen beziehungsweise angekündigten Sammelbände sowie die im TEXT+KRITIK-Band abgedruckte Auswahlbibliografie zeigt, dass häufig Fragen verhandelt werden, die sich um die Verbindung von Engagement und Literatur, Juristik und Schreiben, sowie generell um Politik und Poetik drehen. Mit Corpus Delicti und Leere Herzen hat Zeh zwei Romane „mit einer politischen Intention“ verfasst, wie sie im „elektronische[n] Gespräch“ mit dem Herausgeber Heinz-Peter Preußer meint. Alle Romane jedoch sieht sie als „Gesellschaftsromane“. Selbst wenn sie keine explizit politischen Fragestellungen verfolgt, werden in ihren Texten doch moralische, juristische, zeitdiagnostische und gegenwartsbezogene Themen aufgerufen und problematisiert.
Als zentrales übergreifendes Thema der Werke Zehs führt Stephen Brockmann in seinem Beitrag die Auseinandersetzung mit dem „Problem der menschlichen Freiheit“ an. In politischen und essayistischen Wortmeldungen (hier insbesondere in dem mit Ilija Trojanow verfassten Sachbuch Angriff auf die Freiheit) sowie in dem dystopischen Roman Corpus Delicti geht es um die staatliche Beschneidung bürgerlicher Freiheitsrechte. Der eigentliche Problemfaktor des Liberalismus jedoch sei der freie Mensch selbst. Die durch den Liberalismus gewonnene Freiheit führe dazu, dass sich der befreite Mensch nun eigene Zwänge auferlegt: „Die Freiheit und der Liberalismus sind also widersprüchlich.“
Dass absolute Freiheit im Zusammenleben mit anderen tatsächlich das Gegenteil von Freiheit bedeutet, ist sicherlich kein neuer Gedanke. Auf die liberale Demokratie bezogen variierten die Romane Zehs jedoch die Frage, wie der Mensch agiert, wenn Beschränkungen wegfallen. In den literarischen Versuchsanlagen fehlt eine „Schiedsrichter“-Instanz, was dazu führt, dass die Figuren auf dem Spielfeld sich gegenseitig ihrer Freiheit berauben oder mit ihrer Freiheit nichts anzufangen wissen und unglücklich werden. Dennoch sieht Zeh die liberale Demokratie weiterhin als beste aller möglichen Staatsformen, sie müsse aber immer wieder – auch literarisch – reflektiert werden, um die Probleme der Freiheit zu sehen. Am Ende gehe es in den literarischen Texten Juli Zehs „nicht darum, die Probleme endgültig zu lösen, sondern sie durch Gespräch und Fantasie in Angriff zu nehmen.“
Es ergibt sich das Paradox, dass in der liberalen Demokratie, je erfolgreicher sie ist, die gewonnene Freiheit problematisch wird. Davon handelt der Roman Leere Herzen. Politische Apathie und die gefühlte Sinnleere der titelgebenden ‚leeren Herzen‘ scheinen eine Konsequenz selbstverständlich genossener Freiheit und leiten zugleich ihr Schwinden ein. Ohne diskursive Partizipation und demokratische Praxis gibt man die liberale Demokratie und ein Stück weit auch sich selbst auf: „Wie bei ‚Corpus Delicti‘ formuliert Zeh die politische Botschaft so explizit aus, dass sie niemandem entgehen dürfte“, schreibt Michael Vauth, der sich in seinem Beitrag der dystopischen Form des Romans zuwendet.
Leere Herzen folgt tatsächlich nicht dem Strukturmodell einer klassische Dystopie, die (in der von Vauth vorgestellten Form) in die Zukunft projizierte technische Möglichkeiten mit staatlicher Unterdrückung verbindet und auf Figurenebene den Gesinnungswandel der Zentralfigur im Konflikt mit einem Repräsentanten des Systems vorstellt. In Corpus Delicti wird dieses Schema erfüllt. Der politische Nachfolgeroman hingegen verschiebt das technische Potential auf die Ebene eines Start-ups, macht den jugendlichen Nihilismus aus Spieltrieb gesellschaftsfähig und erzählt damit „keine staatsideologische Dystopie, sondern eine Dystopie des Desinteresses und des Zynismus.“ Was bleibt, ist die Konversion der Hauptfigur.
Die Rezeption Juli Zehs als politische Schriftstellerin hat ihre Berechtigung sicherlich in den veröffentlichten Werken und der politischen Autorinnenpersönlichkeit, wird jedoch auch durch die Vergabepraxis von Literaturpreisen verstärkt, insofern in der jeweiligen Begründung gerade die moralische und politische Dimension ihres Schreibens herausgestellt wird. Das zeichnet Sarah Maaß in ihrem Beitrag nach, der zugleich zeigt, dass die Begründungsfigur politisch engagierter Zeitgenossenschaft auch von Zeh übernommen wird, die in ihren Dankesreden immer deutlichere Kritik an ihrer Generation übt, so dass sie inzwischen Teil ihrer auktorialen „Fremd- wie Selbstinszenierung“ ist.
Diese öffentliche Person Juli Zeh umkreist auch ihre Cousine, die Literaturwissenschaftlerin Agnes Mueller, die von dem Herausgeber zu einem Beitrag eingeladen worden ist und mit einem Brief antwortet, der ihre Weigerung ausführt, über die private Person Julia Zeh zu schreiben. Stattdessen wendet sie sich der paratextuellen Konstruktion von Autorschaft zu. Das zeigt sich bei Zeh etwa im Medien-Spiel mit der fiktiven Autorfigur Manfred Gortz, was zuletzt auch die eigene Autorinnenfigur als konstruiert ausstellt.
Zu diesem auktorialen Bild gehört auch, dass Zeh als promovierte Juristin immer wieder juristische Thematiken in ihre Romane einfließen lässt. Diesen interdiskursiven Beziehungen von Juristik und Literatur im Werk Zehs geht Christina Rossi insbesondere mit Blick auf Schilf nach. Die narrative Rekonstruktion vergangener Sachverhalte („So ist es, sagen wir, in etwa gewesen.“ lautet der letzte Satz von Schilf), die fehlende Objektivität und Multiperspektivität, wie sie in diesem Roman verhandelt wird, ist dabei nicht nur eine allgemeine Reflexion des menschlichen Weltzugriffs, sondern im Besonderen auch „des juristischen Fall-Erzählens“.
Die Erzählweise Zehs wird in weiteren Beiträgen thematisch. Für den modernen Dorfroman Unterleuten arbeitet Heribert Tommek einerseits heraus, wie sich Juli Zehs poetische Suche nach einer neuen auktorialen Perspektive in der „Mischpoetik“ eines „auktoriale[n] Ich-Erzähler[s]“, einer unzuverlässigen Chronisteninstanz, niederschlägt, die andererseits in der Nachfolge „des modern-epischen Erzählens von Alfred Döblin und Günter Grass“ steht.
Inhaltlich lassen sich Unterleuten sowie Über Menschen „dem Genre des ‚Brandenburg-Romans‘“ zuordnen. Dieses Genre wird 2019 von Jakob Pontius und Charlotte Theile in einem ZEIT-Artikel beschrieben und sei mit dem Roman Unterleuten quasi überhaupt erst entstanden. Mit der Landflucht aus der Großstadt Berlin wird Brandenburg zunehmend auch zu einer literarischen Landschaft, die, wie Matteo Galli schreibt, zunächst aber vor allem durch ihre vermeintliche Gesichtslosigkeit als Kontrast zu Berlin bedeutsam wird. Die DDR-Vergangenheit hingegen zeigt sich dabei mitunter in Versatzstücken. Diesen „brandenburgische[n] Klischees“ geht Galli in den beiden Romanen Zehs nach. Kitsch und Klischee müssten nicht notwendigerweise Vereinfachung und Eindeutigkeit bedeuten, wie Galli mit Moritz Baßlers Überlegungen zum ‚Neuen Midcult‘ und Juli Zehs poetologischen Ausführungen zum Politischen schreibt, sondern könnten sich mit Umberto Eco auch dem Erhabenen annähern. In Zehs brandenburgischen Gesellschaftsromanen jedoch fehle jede Komplexität und Mehrdeutigkeit, so dass Galli mit den meisten Rezensionen zu dem Schluss kommt, die beiden Romane seien „auch dank der simplen Sprache und Konstruktion […] Unterhaltungsliteratur“.
Galli fügt jedoch an, dass Juli Zeh dieser Zuschreibung – wie man einer persönlichen Bemerkung Preußer gegenüber entnehmen könne – nicht ablehnend gegenüberstehe. Tatsächlich ist Unterleuten bereits so verfasst, dass er ohne große Mühen in einem ZDF-Dreiteiler verfilmt werden konnte – im Gegensatz zu dem frühen Erfolgsroman Spieltrieb. Obgleich letzterer eher handlungsarm und reflexionslastig auftritt, weist er die meisten transmedialen Adaptionen auf: Spieltrieb ist nicht nur verfilmt worden, sondern auch als Theaterstück mit mehreren Inszenierungen aufgeführt und in Brasilien sogar als TV-Serie umgesetzt. Diesen Übertragungen in ein anderes Medium geht Michael Töteberg in seinem Beitrag nach.
Mit Ausnahme von Über Menschen macht Heinz-Peter Preußer auf der Ebene der Handlungsführung „groteske[] Plot-Twists [aus], die alle früheren Romane strukturierten“. In den meisten Romanen Zehs eröffneten sich mit dieser Wendung „apokalyptische Szenarien“, denen jedoch die Möglichkeiten zur Umkehr sowie die heilsgeschichtliche Hoffnung verloren gegangen sei. Die angeführten Beispiele – der geköpfte Radfahrer in Schilf etwa, Gombrowskis Plan in Unterleuten, mit seinem toten Körper den Brunnen und damit das Dorf zu vergiften, die Verwahrlosung der Kinder in Neujahr oder der systemsprengende Twist der DNA-Identität in Corpus Delicti – seien Handlungselemente, „die verstören sollen“. Als narrative Mittel verwiesen sie jedoch vor allem auf einen Wendepunkt, so dass sie zuletzt „als Stilmittel die Groteske freilich nur beleihen und imitieren“.
Diese narrativen Wendepunkte aber verdanken sich wohl auch der am Leipziger Literaturinstitut „in Drehbuch-Seminaren“ gelehrten Strukturen, die für Zeh durchaus „hilfreich“ gewesen seien, wie sie in dem Gespräch mit Preußer anführt, das den Band abschließt und ausgehend von den Poetikvorlesungen der Autorin zentrale poetologische Positionen durchgeht. Zusammen mit abgedruckten Auszügen aus der Text-Werkstatt ergibt sich ein Einblick in die Arbeitsweise Zehs, die am Computer literarische Welten entwirft, Situationen gestaltet und Figuren verfolgt, um zu sehen, ob sich daraus etwas ergibt, das sich herunterkürzen, in eine Form bringen und veröffentlichen ließe.
Einige Fragmente aus diesem Arbeitsprozess eröffnen den Zeitschriftenband. Die vier abgedruckten Romananfänge aus der Zeit zwischen 2000 und 2020 bilden dabei wohl die Spitze eines Eisbergs diverser als „Spielwiese[n]“ bezeichneter Textdateien mit mehr oder weniger ausführlich entwickelten Ideen. Der erste Auszug aus Die guten Jäger, einem Fragment von etwa 250 Seiten Umfang, stellt eine Ich-Erzählerin vor, die das nächtliche „Dichterviertel“ einer ungenannten Stadt durchstreift und beim Blick in die erleuchteten Wohnzimmer über ihr Leben und das der anderen reflektiert. Der Romantext von Packhof wiederum ist zwar abgeschlossen, aber unveröffentlicht und lässt die konträren gesellschaftlichen Wirklichkeiten einer Gruppe Jugendlicher aus dem „Dom-Gymnasium“ sowie der Ghetto-Kids im titelgebenden Packhofviertel in Brandenburg an der Havel aufeinandertreffen. Neben einem lediglich etwa 20 Seiten umfassenden „E-Mail-Roman“ aus der Zeit um 2009 (Wolfenstein) findet sich auch ein Auszug aus einem etwa 800 Seiten umfassenden Projekt mit dem Titel Mitternacht, der zunächst ein historisches Setting im Jahre 1959 etabliert.
Zwischen den abgedruckten Romananfängen und dem Interview zur Poetologie – wodurch der Autorin das erste und letzte Wort zufällt – versammelt der Zeitschriftenband Beiträge, die (durchaus auch kritisch) zentrale Themenfelder und Schreibweisen verhandeln und somit einen guten wissenschaftlichen Zugang zum Werk Juli Zehs bieten.
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