Sich trauen, Mensch zu sein

Mit „Über Menschen“ lässt Juli Zeh nach „Unterleuten“ einen weiteren Roman in der brandenburgischen Provinz spielen

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Titel von Juli Zehs neuem Roman, Über Menschen, klingt wie die Überschrift zu einem Traktat des französischen Philosophen und Essayisten Michel de Montaigne (1533–1592). Doch obwohl Zeh sprachlich geschickt mit der Titelzeile ihres bis dato erfolgreichsten Buches, Unterleuten (2016), spielt – der Blick auf unsere heutige Welt ist keineswegs, wie insinuiert wird, einer „von oben herab“. Auch die 36-jährige Werbetexterin Dora, die es, nachdem ihre aktuelle Beziehung in die Binsen gegangen ist und die Corona-Pandemie – man schreibt das Jahr 2020 – mehr und mehr das Leben bestimmt, in den 300-Seelen-Flecken Bracken verschlagen hat, muss sich hier, auf dem Land im Brandenburgischen, „unter Leuten“ bewähren. Und nach und nach wird sie in deren Leben und Denken samt den sich daraus ergebenden Konflikten einbezogen.

Ihr „Dorf-Sabbatical“, wie Zehs Heldin ihre Pause von Großstadthektik und Beziehungsstress bezeichnet, hat Dora sich allerdings anders vorgestellt, als es sich gleich von Anfang an entwickelt. Denn von dem unverbindlichen Aneinander-Vorbeileben der Menschen, wie sie es aus Berlin gewohnt ist, muss sie sich schon kurz nach ihrer Ankunft verabschieden. Hier, in dem alten, auf 4.000 Quadratmetern Grundbesitz stehenden und dringend reparaturbedürftigen Gutsverwalterhaus, das sie, mehr aus einer Laune heraus denn einem wohlüberlegten Plan folgend, gekauft hat, besitzt sie nämlich Nachbarn, die einen anderen Umgang miteinander gewohnt sind. 

Hinter einer Mauer, die Doras Grundstück vom nächsten Anwesen des typischen Straßendorfs abgrenzt, wohnt beispielsweise der sich selbst als „Dorf-Nazi“ bezeichnende Gottfried Proksch. „Gote“, wie man den kahl geschorenen und zunächst mehr als kurz angebundenen Mann nennt, hat in der Zeit, während das alte Gutshaus leer stand, ein Auge darauf gehabt. Und auch jetzt ist er ungefragt zur Stelle, wenn sich vor Dora ein neues Problem auftut. Kein richtiges Bett im Haus? Gote zimmert eines. Die Küchenstühle unbequem? Gote weiß Rat. Die Zimmer könnten einen neuen, freundlichen Anstrich vertragen? Gote fährt mit Dora in den Baumarkt der Kreisstadt. Und weil dort die Hortensien stark reduziert sind, überredet er sie, gleich zwei zu nehmen, denn „natürlich steht nirgendwo geschrieben, dass Neonazis keine Hortensien mögen.“

Ihre hauptstädtische Überzeugung, „man könne das Gute und das Böse spielend leicht auseinanderhalten“ – im Umgang mit Gote und dessen zehnjähriger Tochter Franzi, die den Sommer beim geschiedenen Vater verbringen darf und bald von Dora nicht mehr zu trennen ist, schwinden bisherige Gewissheiten. Und ähnlich wie mit Gote geht es ihr mit den restlichen Einwohnern eines Dorfes, in dem bei der letzten Wahl die AfD fast 30 Prozent der Stimmen bekam. Man hilft sich gegenseitig, interessiert sich für die Probleme der anderen, trägt Streitigkeiten offen aus, entzweit sich, rauft sich wieder zusammen und lernt, dass man Widersprüche, wenn sie sich denn partout nicht auflösen lassen, aushalten muss. Ja, sogar ein gemeinsames Fest wird im Laufe des Romans organisiert, eines für den, wie sich später herausstellt, todkranken Gote.

Das alles ist neu für Dora. Plötzlich wird Nachbarschaft – in Berlin immer als „eine Form von Zwangsehe“ erlebt – wichtig. Braucht man andere dringend und wird von ihnen gebraucht. Hilft sich gegenseitig, ohne für diese Hilfe etwas einzufordern. Entdeckt die eigenen Talente und staunt über diejenigen der anderen. Kommt sich näher, ohne sich im Weg zu stehen oder seinen Mitmenschen ihren Platz in der Welt streitig zu machen. Und merkt schließlich, dass die einzige Wahrheit, die zählt, die ist, „dass sie alle hier und jetzt gemeinsam auf diesem Planeten sind. Als Existenzgemeinschaft. […] Was für ein verdammtes Wunder. Angesichts dessen kann die Vorstellung von Spaltung doch nur ein Irrtum sein.“

Juli Zeh hat ihren neunten Roman mit zeitgeschichtlichen Anmerkungen geradezu gespickt. Immer wieder kommt die Corona-Pandemie ins Bild, auch wenn Über Menschen keineswegs, wie es andernorts zu lesen war, der erste deutschsprachige Corona-Roman ist. Die Antirassismus-Proteste in den USA nach dem gewaltsamen Tod des Schwarzen George Floyd in Minneapolis, die der weltweiten Black-Lives-Matter-Bewegung einen Aufschwung gaben, werden kommentiert. Zu Doras heimlich beneidetem Helden entwickelt sich der Kosmonaut Alexander Gerst. Und Greta Thunbergs trotziges „How dare you!“ würde Zehs Protagonistin am liebsten durch ein „I have a dream“ ersetzt sehen. 

Nein, man lebt nicht am Ende der Welt in Bracken, wird von den Problemen jenseits des dörflichen Mit- und Gegeneinanders schon tangiert. Aber die erhalten auf dem Land – „Kein Häusermeer. Kein Autochaos. Keine Fahrradfahrer, keine Fußgänger. Keine Hochbahnen, keine Werbung, keine bunten Lichter. Es gibt nur ein paar Häuser, Bäume, das ewige Gras.“ – eine andere Gewichtung. Denn hier ist man näher am Borkenkäfer, dem sterbenden Wald und den ausgelaugten Böden als an Lockdown, Elektroautos und Windkraft. 

Was Zehs Heldin zunächst nur als eine Befreiung aus den „Denk-Imperativen“ ihres Berliner Ex-Freundes Robert erlebt, wird, je besser sie sich in die Gemeinschaft der Dorfbewohner integriert, umso suspekter für sie. Bis sie schließlich denkt, 

wie wenig Polarisierung es in Wahrheit gibt. Kein Ost und West, unten und oben, links und rechts. Weder Paradies noch Apokalypse, wie es Medien und Politik häufig schildern. Stattdessen Menschen, die beieinanderstehen. Die sich mehr oder weniger mögen. Die aufeinandertreffen und sich wieder trennen.

Über Menschen ist ein Gegenwartsroman wie es Unterleuten vor einem Jahrfünft einer war. Diesmal allerdings verzichtet Juli Zeh auf Multiperspektivismus, erzählt ganz aus der Sicht ihrer Heldin und reduziert auch sämtliches Drumherum auf das Wesentliche. Das bringt Vor- und Nachteile mit sich. Zu Letzteren zählt, dass es natürlich nicht immer ganz klischeefrei zugeht in der brandenburgischen Provinz. Zu Ersteren, dass sich die Grundidee des Buches seinen Lesern klarer vermittelt. Eine Grundidee, die auf die Erkenntnis hinausläuft, dass ein ideologisch geprägter Blick auf die Menschen nur aus sicherer Distanz möglich ist. Wer näher herangeht, wird entdecken, dass das Zauberwort „trotzdem“ heißt – „Trotzdem weitermachen, trotzdem da sein.“

Titelbild

Juli Zeh: Über Menschen. Roman.
Luchterhand Literaturverlag, München 2021.
416 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783630876672

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