Das fressende Haus

Literarisches aus dem Wald – Weißensteiner Miniaturen

Von Klaus HübnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hübner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Siegfried von Vegesack (1888–1974) hinterließ ein gewaltiges literarisches und journalistisches Werk und war zu seinen Lebzeiten durchaus nicht unbekannt. Leider zählt auch er zu den allzu vielen Schriftstellern des 20. Jahrhunderts, die heute kaum noch gelesen werden oder gar völlig vergessen sind. Von 1918 bis zu seinem Tod lebte der Literat im Turm neben der Burg Weißenstein bei Regen im Bayerischen Wald.

Weit über den „Woid“ hinaus kennt man immer noch wenigstens den Titel seines lesenswerten Romans von 1932: Das fressende Haus. So nennt man den Turm noch heute, und deshalb taucht im Namen des in Regen ansässigen Fördervereins Weißensteiner Burgkasten auch der Zusatz „Rettet das fressende Haus“ auf. Dieser Verein gibt seit 2017 eine interessante Buchreihe heraus, die Weißensteiner Miniaturen. Sie dokumentiert das Werk des Siegfried von Vegesack und seiner ersten Frau, der ebenfalls schriftstellerisch tätigen Clara Nordström, macht unveröffentlichte Texte und Dokumente aus dem Vereinsarchiv bekannt und führt uns das abwechslungsreiche Leben im alten Burgturm plastisch vor Augen. Fünf schön aufgemachte kleine Bände liegen bereits vor, und sie belegen eindrucksvoll, dass geistvolle Künstlerexistenz und literarisches Leben nicht zwingend an die großen Metropolen gebunden sind.

Im ersten Band präsentiert Rolf Rieß den von 1922 bis 1957 andauernden, 53 Briefe und Karten umfassenden Briefwechsel zwischen Siegfried von Vegesack und dem im oberösterreichischen Zwickledt bei Wernstein am Inn lebenden Zeichner, Maler und Dichter Alfred Kubin (1877–1959) – und lässt damit eine Künstlerfreundschaft lebendig werden, in der sich die Freiheit des Geistes trotz zeitweise widrigster Umstände immer erhalten hat. Das Zeitgeschehen, etwa die Bedrohung der als „halbjüdisch“ klassifizierten Ehefrau Kubins oder die Erstürmung Zwickledts im Jahr 1945, kommt nur am Rande vor – es geht im Wesentlichen ums künstlerische Schaffen und um den von beiden ganz unterschiedlich verspürten Drang zur ästhetischen Kreativität.

„Ich suche einen ‚Stil der Reife‘, ein völlig organisches Zusammenwachsen aller Einzelzeichnungen“, bemerkt Kubin im Sommer 1925. Die Politik? „Ich will meine ungestörte Ruhe in Zwickledt haben und bin tolerant gegen alle anderen verlange das auch für mich“. Mitte der 1930er-Jahre, als sich Österreich und Deutschland nicht immer grün sind, seufzt Vegesack: „Ich habe das dringende Bedürfnis, einmal aus dem europäischen Tollhaus herauszukommen und die Weltkugel auch von der anderen Seite anzuschauen“.

Tatsächlich kann Vegesack kurz darauf nach Lateinamerika reisen, worüber sein Buch Unter fremden Sternen Auskunft gibt. Sein Erfolg hält an: „Mein ‚Kritzelbuch‘ – Auflage 10000 Ex. – war schon Anfang Dezember vergriffen“, meldet er Ende 1939. In seiner baltischen Heimat jedoch würden die Menschen „wie Radieschen umgetopft, aber sogar Radieschen vertragen das nicht“. Der Krieg macht sich auch in Zwickledt und im Bayerischen Wald bemerkbar – Kubin kommentiert das 1941 so: „Ja die Zeit dräut aber mit meinen 64 Jahren dräut sie immer und da tappt man am besten so ohne alles zu genau zu nehmen dahin“.

Alfred Kubin habe „diese Zeit der entfesselten Dämone“ in seinem 1909 erschienenen Roman Die andere Seite schon vorausgeahnt, antwortet Vegesack. „Nur dass die Wirklichkeit viel trivialer, spiessiger und unmenschlicher ist …“. Noch lebe man wie auf einer Insel, doch draußen sei Krieg – Vegesack wird bald darauf an die Ostfront kommandiert, sein Sohn Gotthard stirbt mit 20 Jahren in der Ukraine und im Frühjahr 1945 endet das Grauen immer noch nicht. Beide Künstler arbeiten weiter, unverbrüchlich miteinander verbunden durch ihr gemeinsames „Seelenfluidum“ (Kubin). Doch Vegesack kann sich den Zeitläuften dann doch nicht entziehen. Thomas Mann bemerkt in seinem Tagebuch vom 31. Oktober 1952: „Hat die Einverleibung Österreichs begeistert begrüßt, auch München und ein Geburtstagsgedicht auf Hitler geschrieben. War aber auch im Gefängnis und erfuhr Bücher-Konfiskationen. Konfus, aber nicht unsympathisch“.

In zwölf Tagen verfasste Siegfried von Vegesack im Juni 1944 seinen Nachruf auf den gefallenen Sohn: Mein Junge. Der zweite, mit zahlreichen Fotos angereicherte Miniaturen-Band enthält den stellenweise ergreifenden Text:

„Verschont mich mit dem großen Wort / vom ‚Feld der Ehre‘ und vom ‚Heldentod‘. / Was können mir die großen Worte geben? / Mein Junge fiel. Und nie mehr wird er leben. / Was hilft mir auch der schönste Heldentod? / Mein Junge fiel. Und für mich ist es Mord“. Der Schmerz um seinen Jungen lässt ihn ungewöhnlich deutlich werden: „Die Besten fallen, und die Bestien bleiben leben. / Der Tapfre stirbt, der Feigling bleibt verschont. / Kein Gott, wenn er noch irgendwo im Himmel wohnt, / kann dieses Massenmorden je vergeben.“

Barbara von Schnurbein, deren Fußnoten das Langgedicht akribisch aufschlüsseln, hat noch weitere Texte über Gotthard von Vegesack hinzugefügt, darunter einen Brief von Clara Nordström an ihren Ehemann vom Juni 1944, der – von heute aus gesehen – unfassbar deutlich macht, wie viele Mütter und Väter damals dachten: „… Das Reich braucht uns. Und es ist sicher vielmehr in Gotthards Sinn, dass wir tapfer weiterstapfen und weiterschaffen, auch wenn bisweilen dabei die Tränen herablaufen und das Herz so schmerzt, als wolle es zerspringen“. An der Kapelle in Weißenstein wurde für Gotthard – wie es im Dorf üblich war – ein Totenbrett angebracht.

Der dritte Band beschäftigt sich mit der Büchnerpreisverleihung 1968 an Golo Mann (1909–1994) und der aufgeregten Debatte darüber, in der sich Siegfried von Vegesack mit dem attackierten Preisträger solidarisierte. Nicht uninteressant, auch wenn wenig, zu wenig, von und über Vegesack selbst zu lesen ist.

Der vierte Band ist das Ergebnis detaillierter Familien- und Verwandtschaftsforschung und stellt die Verbindung der Vegesacks zur Familie des Luftschiff-Erfinders Graf Ferdinand von Zeppelin in den Mittelpunkt. Er macht Archivfunde öffentlich – 36 in den Jahren zwischen 1915 und 1921 verfasste Briefe und Karten von Isabella von Zeppelin, der Frau des Grafen und Tante des Schriftstellers, sowie weitere Dokumente – und erfüllt damit eine explizit wichtige Funktion der Weißensteiner Miniaturen. Man erfährt unter anderem, wie eng die Gefühlsbindungen der Sippschaft an ihre baltische Heimat waren und zeitlebens blieben. Man erfährt auch, wie patriotisch und manchmal nationalistisch überhöht die Geschehnisse des Ersten Weltkriegs kommentiert wurden – noch am 1. November 1918 schreibt Tante Bella: „Wenn doch unsere Luftschiffe noch vor Toresschluss Bomben in die feindlichen Reihen werfen dürften als letzten Gruß?“. Und man erfährt, dass man 1921 durchaus ganz andere Sorgen haben konnte als die allermeisten Deutschen: „Hier mangelt es an Dienstboten“. Wer sich für die Familie Zeppelin interessiert, kommt hier auf seine Kosten. Zum besseren Verständnis der Werke „ihres“ Autors, um das es den Weißensteiner Miniaturen vorrangig gehen sollte, tragen die Erläuterungen von Barbara von Schnurbein bei.

Um sein Einkommen aufzubessern, schrieb Siegfried von Vegesack von 1924 bis 1932 pro Woche einen Prosatext, den er immer mittwochs an verschiedene Zeitungen schickte. Die Auswahl, die Hans Pongratz für den fünften Miniaturen-Band zusammengestellt hat, zeigt den manchmal unter Pseudonymen schreibenden Autor als versierten, literarisch ambitionierten Journalisten. Texte von Clara Nordström und von fünf Gastautoren, darunter Werner Bergengruen, ergänzen das feine Lesebuch, in dem es zumeist um das Leben im Turm und im Bayerischen Wald überhaupt geht, um die damaligen Sitten und Gebräuche in Vegesacks geliebter niederbayerischer Wahlheimat. Aber bisweilen auch um Kindheit und Jugend – und um aktuelle Eindrücke aus dem Baltikum: „Es ist merkwürdig, wie diese kleinen Völker, die früher unter dem Chauvinismus des mächtigen Zarenreiches litten, nun ihrerseits diesen Nationaldünkel wie eine Krankheit übernommen haben. Und nicht nur gegen Deutsche und Russen, sondern auch gegen die Juden richtet sich dieser lettische Nationalismus“.

Liebens- und lesenswerte, oft anrührende Feuilletons hat Hans Pongratz versammelt, Wanderung ins Stifterland zum Beispiel, Feuerwehrübung im Dorf oder Fahnenweihe in Niederviehbach. Wie tüchtige Mamas und gestandene Papas bei der Elternversammlung – das gab es schon 1930 – wieder zu Grundschülern zusammenschrumpfen, erzählt der abgründige Text Auf der Schulbank, und eine Liebeserklärung an München findet sich ebenso wie Reisefeuilletons aus Graz, dem Tessin oder Südfrankreich.

Der bisher jüngste Band der Weißensteiner Miniaturen rückt den vielseitigen, immer auch unterhaltsamen Schriftsteller ins lebendige Bewusstsein heutiger Leser, und genau das soll diese Buchreihe ja auch tun. Für die nähere Zukunft wünscht man den von engagierter Literatur- und Heimatliebe getragenen, grundsympathischen Miniaturen, dass sie sich nicht bei unmaßgeblichem Kleinkram oder genealogischen Nebensächlichkeiten aufhalten, sondern das bemerkenswerte, wenig bekannte Gesamtwerk des Siegfried von Vegesack einem möglichst breiten Lesepublikum von heute näher bringen mögen – mit Neuentdeckungen wie in 100 Zeilen – das Mittwochsfeuilleton, aber auch mit neuen Editionen. Das fressende Haus hätte es mehr als verdient.  

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Hans Pongratz (Hg.): 100 Zeilen – das Mittwochsfeuilleton. Ein Lesebuch mit Texten von Siegfried von Vegesack, Clara Nordström und anderen Autoren.
Lichtung Verlag, Viechtach 2019.
199 Seiten, 12,95 EUR.
ISBN-13: 9783941306943

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