Die Metallbäuche der Bretagne kotzen Garnelen, Schweinehälften und Menschen aus.

Der zu früh verstorbene Joseph Ponthus hat mit „Am laufenden Band“ ein beeindruckendes Buch über Zeit- und Drecksarbeit geschrieben

Von Kai SammetRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Sammet

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Noch jede industrielle Transformation versprach, dass körperliche und dreckige Arbeit weniger, gar irgendwann verschwinden würde. Doch jeder, der einmal Windeln gewechselt hat, weiß: wir sind erdnah, was in der Windel landet, muss oben einmal hineingekommen sein. Und die Herstellung dessen, unserer Nahrung, das ist immer noch ein dreckiges Geschäft. Nicht alles nehmen einem Maschinen ab, vielmehr ist man oft nichts als ein Anhängsel der Maschine (das ist der Sitz im Leben der actor-network-theory, ganz sicher).
Das sind so etwas gelockerte Assoziationen angesichts des faszinierenden Buches des französischen Sozial-, dann aber vor allem Zeitarbeiters Joseph Ponthus. 

Allerdings dachte ich bei der Widmung zuerst, ach Gottchen, jetzt wird wieder die Marseillaise gesungen und fraternité etc. und der Proletarier gefeiert. Stimmt nicht. Schon der Spott in der Widmung, über den ich zuerst hinweglas, hätte mich eines Besseren belehren sollen. Da heißt es, er, Ponthus, widme sein Buch „meinen Brüdern/ Den Proletariern aller Länder/ Den Analphabeten und den Zahnlosen.“ – die Zahnlosen also. Ponthus bügelt seine Erfahrungen nicht glatt und schneidet sie sich nicht politisch-links-korrekt zurecht. Ein Beispiel hierfür: das Motto des Buches stammt von Guillaume Apollinaire aus dem Ersten Weltkrieg: „Fantastisch, was sich alles ertragen lässt.“ – Krieg und Fabrik, das soll vielleicht auch die Assoziation sein. Aber für Ponthus gibt es nicht nur die „Eintönigkeit der Fabrik“, sondern er will auch „ihre paradoxe Schönheit“ beschreiben. Außerdem verliert erdurch die Fabrikarbeit seine Panikattacken, er schluckt keine Psychopharmaka mehr: „Die Fabrik hat mich beruhigt wie eine Couch“. Ponthus´ Erfahrungen und Beschreibungen gehen nicht auf in einer Klage über ‚entfremdete‘ und ausbeuterische Arbeit. 

Und wiederum: zuerst dachte ich, was soll das, dass das Ganze aufgebaut ist wie ein Langgedicht oder gar ein Epos, kein Fließtext. Ist das nicht manieriert? Nein, ist es nicht. Es entwickelt einen Sog beim Lesen, dies Fließen von Assoziationen, genauen Beschreibungen, Ponthus selbst hat dafür vielleicht mit einem Zitat Barbey d`Aurevillys die beste Beschreibung: „Ich schreibe wie ich spreche wenn der Feuerengel des Gesprächs/mich zum Propheten macht.“
Warum aber landet ein Sozialarbeiter in Fisch-, später einer Fleischfabrik(en)? 

Ich bin dort nicht für eine Reportage hin
Und schon gar nicht für die Revolution
Nein
Die Fabrik ist für die Kohle
Ein Brotjob
Wie man so sagt
Weil meine Frau es satt hat mich auf der Couch auf eine Stelle in
meiner Branche warten zu sehen.

Ponthus heuert also bei einer Zeitarbeitsfirma an, bei einer „Bretonische(n) Fisch- und Garnelenproduktions- und -verarbeitungs- und -gar- und all das -fabrik“. Die Verträge laufen zwei Tage, mal eine Woche, mal länger. Ponthus gehört zur marxschen industriellen Reservearmee. 40 Tonnen Fisch täglich werden verarbeitet, nicht im Bauch von Paris, sondern in Metallbäuchen der Bretagne: 

Unsere gigantischen Förderbandmaschinen
Metallbäuche in denen die Garnelen
Aufgetaut
Sortiert
Gegart
Wiedertiefgefroren
Wiedersortiert
Verpackt
Etikettiert
Und wiederwiedersortiert werden

Angeblich seien zwei Drittel der dort Arbeitenden ZeitarbeiterInnen. Die Garnelen stammen aus Nigeria, Guatemala, Ecuador. Das Maul des gefräßigen (mitteleuropäischen) Homo sapiens ist weltumspannend und man kann darauf wetten, dass die Arbeit in den Ursprungsländern der Garnelen womöglich noch lausiger ist als in der Bretagne.
Wie lässt sich dieser Metallbauch beschreiben? 

Ich kenne nur wenige Orte mit einer so
Kompromisslosen existenziellen radikalen Wirkung wie
Griechische Heiligtümer
Gefängnisse
Inseln
Und die Fabrik
Kommt man heraus
Weiß man nicht kehrt man zurück in die echte Welt oder verlässt
man sie. 

Die Arbeit ist körperlich anstrengend, Ponthus hat dauernd Schmerzen, schluckt Schmerztabletten. Die Arbeit ist kalt, damit Fisch und Fleisch nicht gammeln, muss alles kalt sein, also auch das Maschinenanhängsel Mensch. Ponthus trägt drei Paar Handschuhe, mehrere Paar Socken. Und der Metallbauch muss permanent Ware ausspucken, die Herstellung läuft rund um die Uhr, mal ist Ponthus beim Frischfisch um vier Uhr morgens, also um zwei aufstehen. 

Dann irgendwann hat er für einen Sommermonat einen Job als Sozialarbeiter, eine Ferienfreizeit für „Menschen mit Behinderung“, jetzt ändern sich Arbeit, Arbeitszeit, Arbeitsrhythmus, wenn er bei seinen „Mongis“ ist. 

Wieder folgt ein Zeitarbeitsvertrag, vier Wochen Nachtschicht von 20.30 bis 5.30, Panierfischfabrik und Ponthus ist erneut Anhängsel, seine Physiologie muss sich umstellen, Zeitverschiebung: „Mein Organismus ist genauso orientierungslos wie ich in dieser /neuen Fabrik“. Irgendwann arbeitet er bei den Fertiggerichten, da muss Tofu abgetropft werden, ein widerlich gummiartiges Zeug – auch vegan genießende Bäuche sind aus Fleisch und Blut und zwingen Menschen aus Fleisch und Blut zu stumpfer Arbeit, nervtötend, zeitraubend, monoton: 

Die Zeit für einen Kaffee im Pausenraum
Endlose Gänge Treppen
Die verlorene Zeit
Lieber Marcel ich hab gefunden wonach du gesucht hast
Komm zur Fabrik ich zeig sie dir sofort
Die verlorene Zeit
Dann musst du keine Wälzer mehr darüber schreiben.

Industrielle Reservearmee, die angestellt, gefeuert, aber auch kontrolliert und diszipliniert wird. JedeR neue ArbeiterIn muss ein Heft bei sich tragen: „Integrationsverfolgung eines neuen Mitarbeiters“, da werden Teamgeist, Pünktlichkeit, Hygiene, Kommunikationsfähigkeit, Sicherheit, Verhalten, Umgang mit Nichtkonformitäten, Sorgfalt, Eigeninitiative, Einsatzbereitschaft, Sozialkompetenz, Selbstbeherrschung evaluiert, als ginge es um einen höheren Managementposten. Und man mag ein noch so holistisches Wesen sein, der Boss sagt irgendwann: „Schluss für dich/Bis zum nächsten Mal“, und man ist raus. 

Irgendwann gibt es einen neuen Vertrag, nun im Schlachthof, Ponthus muss das Förderband reinigen: „Alles ist rot vom Blut und weiß vom Fett“, er muss erst langsam lernen, wie man das reinigt. Es ist eine womöglich noch dreckigere Arbeit als in der Fischfabrik. Auch wenn dort der Geruch zum Beispiel von Wellhornschnecken („Eine Mischung aus toter Ratte/Watt/Pisse/ und schlechtem Wein/Muffig/Modrig“) penetranter gewesen sein mag, so wird er hier selbst zum Tier, das Tiere frisst: „Ich habe Blut geleckt/Wörtlich/Spüre es im Mund/Das Schweineblut/Die Spritzer und Rückstöße des Hochdruckstrahls“ – überdies können die MitarbeiterInnen im Supermarkt des Schlachthofs günstig Fleisch kaufen: 

Als müsste mich das Fleisch das ich den ganzen Tag herumschiebe
Ernähren
Als müsste es mir Kraft geben
Seine Kraft

Und was ist mit den KollegenInnen, denen er sein Buch widmet? Auch hier vermeidet Ponthus wohlfeiles fraternité-Gedusel. Er sieht natürlich, dass es unsolidarisches Verhalten gibt, er macht keinen Hehl aus seinen Zorn und seiner Verachtung. In der Fischfabrik zum Beispiel taucht ein neuer Zeitarbeiter auf: 

Er ist nicht nur ein Drückeberger
Kippenschnorrer
Mitfahrgelegenheitswegschnapper
Nein er ist vor allem genauso kälteempfindlich wie
verständnisresistent 

Nicht großartig anders benimmt sich ein von allen bewunderter ehemaliger „Hochseefischer“, auch ein Verpisser, der wenig arbeitet. Deshalb werden Ponthus und er vom Chef angeranzt, was Ponthus hilflos aggressiv macht. Überdies ist dieser „Hochseefischer“ ein machistisches Arschloch, das davon schwärmt, wie er seiner Frau den „Kolben“ „reingerammt“ hat. 

Gegen Ende des Buches kommen eher sanftere Passagen, ein Brief an die Mutter, die an einem Multiplen Myelom, einer Spielart des Blutkrebses, erkrankt ist: „Auf die Schule des Krebses/Ist man nicht vorbereitet“, man kann Krebs „nichts lernen.“ 

Und zum Schluss gibt es dann doch noch das eposartige Langgedicht, das an Inger Christensens Alphabet erinnert, eine Art Liebesbrief an seine Frau: „Es gibt dieses Lied von Vanessa Paradis das nach unserem/Hochzeitstanz kam“, „Es gibt deinen Geburtstag an diesem Gründonnerstag“, „Es gibt den Schlachthof wo ich morgen früh wieder anfang“, „Es gibt Kühe in Warteställen die darauf harren im Morgengrauen/geschlachtet zu werden“, „Es gibt unsere Liebe“. 

Joseph Ponthus, geboren 1978, ist ein faszinierendes Buch über die Arbeitswelt in den industrialisierten Metallbäuchen der Fleisch- und Fischindustrie gelungen. Ich hätte gerne seine Karriere weiterverfolgt – doch er ist viel zu früh am 24. Februar 2021 an Krebs verstorben.

Titelbild

Joseph Ponthus: Am laufenden Band. Aufzeichnungen aus der Fabrik.
Aus dem Französischen von Mira Lina Simon.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2021.
280 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783751800433

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