Pop-Diskurs reloaded

Sechs Neuerscheinungen unterstreichen die wachsende Bedeutung des internationalen Pop-Diskurses

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die deutsche Popmusikforschung  ist beileibe noch nicht an ihre Grenzen gestoßen. Der Diskurs indes wird immer komplexer und differenzierter; eine erfreuliche Entwicklung, musste man vor 15 Jahren Popmusik noch als Fremdkörper behandeln, der zunächst minutiös definiert und expliziert werden musste, bevor man sich konkreten Analysen widmen konnte. Diese fast apologetische Haltung ist mittlerweile Geschichte und zwar sowohl in der Wissenschaft als auch im Fall von eher essayistisch angelegten Veröffentlichungen.

Greil Marcus war für diese Entwicklung mit Sicherheit ein Pionier. In den 90er Jahren erschien sein Werk bei Rogner & Bernhard, exklusiv vertrieben bei 2001, wunderbar gestaltete und (meist von Fritz Schneider) brillant übersetzte Bücher, die vor allem in Deutschland zurecht große Erfolge feiern konnten. Marcus ist mittlerweile bei größeren Verlagen gelandet, schreibt aber immer noch wegweisende Bücher: sein Essay über Dylans „Like A Rolling Stone“ etwa oder seine hierzulande leider untergegangene Studie über Van Morrison. Nun erscheint sein neues Buch Three Songs, Three Singers, Three Nations. Amerika in drei Liedern, diesmal bei Wilhelm Fink, und ein weiteres Mal nimmt er den Leser mit auf die Reise in eine amerikanische Gegenrealität, in der Geschichte anhand von Popmusik erklärt und interpretiert wird.

Drei Songs, Dylans „Ballad of Hollis Brown“ und zwei Blues-Klassiker, „Last Kind Words Blues“ von Geeshie Wiley sowie „I Wish I Was A Mole In The Ground“ von Bascom Lamar Lunsford (zu dem Marcus bereits in früheren Werken geschrieben hat), erklären dem Leser Amerika aus einer alternativen Sicht. Marcus schlägt, wie gewohnt, vergessene Nebenstraßen ein, verweigert sich den großen Highways und durchforstet (um in seiner eigenen Metapher zu bleiben) den Mülleimer der Geschichte nach Vergessenem, aber dennoch für das Verständnis der Gegenwart Essenziellem.

Auch Jens Balzers Aufsatzsammlung Pop. Ein Panorama der Gegenwart ist der Versuch, dem Phänomen auf essaystischem Wege nachzugehen. Balzer hat sich in den letzten Jahren in den deutschen Feuilletons einen Namen gemacht, weil er, ebenso wie Marcus, nicht die ausgetrampelten Pfade beschreitet, die lange Zeit den (eigentlich nicht vorhandenen) Pop-Diskurs in den deutschen Tages- und Wochenzeitungen dominiert haben (und es leider in großen Teilen immer noch tun).

Denn das große Problem ist natürlich, anders als beim öffentlichen Diskurs über Literatur, das immer noch den Artikeln über Popmusik implizite Bedürfnis, dem Leser erst noch einmal alles von Grund auf erklären zu müssen; ein Phänomen, dem man etwa in einschlägigen Musikzeitschriften natürlich nicht begegnet, da hier einem Publikum der Eingeweihten gepredigt wird. Dies führt zu einer ähnlichen Schieflage wie auch beim anfangs erwähnten wissenschaftlichen Pop-Diskurs: Erst wenn alles minutiös erklärt ist, kann man – sollte noch Platz sein – zu einem Deutungsversuch kommen. Balzer, und das stellt die vorliegende Essaysammlung unter Beweis, ignoriert diesen Duktus und schreibt einfach aus subjektiver Perspektive über Pop-Phänomene, die ihm persönlich bedeutsam erscheinen. Daher liest man hier nicht nur von einer abgedrehten Drone-Band wie Sunn O))), sondern auch von Helene Fischer.

Zwischen den Polen Wissenschaft und Feuilleton bewegt sich das von Claus Leggewie und Erik Meyer bei Metzler herausgegebene Buch zu Global Pop mit dem fast schon augenzwinkernden Untertitel Das Buch zur Weltmusik. Denn dieser bereits in den 1980er Jahren omnipräsente Terminus ist mittlerweile im Pop-Diskurs höchst umstritten, da Weltmusik in den meisten Fällen eine Welt meinte, die aus unserer westlichen Sicht fremd und exotisch zu sein schien, also Afrika, Asien und mitunter noch Lateinamerika. Aber genau auf diesen Punkt geht auch gleich der erste Essay von Glaucia Peres da Silva, „Weltmusik: Ein politisch umstrittener Begriff“ ein und die Herausgeber schreiben darüber schon im Vorwort: „Global Pop oder The art formerly known as world music“.

Davon ausgehend werden in 44 Aufsätzen die verschiedensten Aspekte jenes nun als Global Pop bezeichneten Phänomens abgebildet, und dabei der gesamte popkulturelle Überbau – also nicht nur Musik/Text, sondern auch Distribution, Rezeption, Inszenierung, Ökonomie usw. – berücksichtigt. Und so lesen wir eben nicht nur von Peter Gabriels Rolle als Mittler afrikanischer Musik, sondern auch von Alan Berns Klezmer-Revival, von der Wiederentdeckung der Ukulele im Pop, von alpiner Volksmusik, von der kulturellen Bedeutung von Dub, von J-Pop und glücklicherweise auch von der europäischen Rezeption amerikanischer Folk-Musik, ein Thema, das zuvor nicht unter dem ‚Weltmusik‘-Aspekt untersucht worden wäre. Als erstes Handbuch zu Global Pop ist dieses Buch essenziell und nicht nur aufgrund seines breiten Themenspektrums eine faszinierende Lektüre.

Weniger nachzuvollziehen ist der von Margaret McCarthy bei DeGruyter herausgegebene Band German Pop Literature. A Companion und dies liegt in diesem Fall gerade an der hier vorgestellten Themenvielfalt, die in mehreren Fällen auch das Gebiet der Popmusikforschung berührt. Tatsächlich gibt das in der Reihe Companions to Contemporary German Culture zumindest auf den ersten Blick vor, ein umfassender, essenzieller Begleitband zu diesem literarischen Phänomen zu sein, entpuppt sich aber leider als allzu heterogene Sammlung von Einzeluntersuchungen. Gibt sich das an sich gelungene, ausführliche Vorwort noch redlich Mühe, eine Kategorisierung deutschsprachiger Popliteratur vorzunehmen, wäre bei der Auswahl der Aufsätze eine stärkere Orientierung an den einschlägigen Texten (von denen in ebenjener Einführung auch die Rede ist) und den zentralen Entwicklungen wünschenswert gewesen.

Stattdessen wirkt der Band jedoch wie eine Zusammenstellung von Aufsätzen, bei denen jeder Autor – und dies ist in der akademischen Pop-Forschung ein größeres Problem als man oft wahrnehmen will–  seinen persönlichen Vorlieben frönt. Aufsätze über Benjamin Lebert, Kanak TV, Jana Hensel, Peter Licht, selbst über Sven Regener/Leander Haußmann sind verzichtbar oder zumindest in einem doch relativ ausgewählten Feld an Aufsätzen – elf an der Zahl – unangemessen. Auch Joachim Lottmann und Andreas Neumeister müssen in einem Band, in dem Benjamin von Stuckrad-Barre fehlt, nicht unbedingt präsent sein. Das fällt umso mehr ins Gewicht, als dass tatsächlich bedeutende Texte hier zu lesen sind: Enno Stahls An Alternative History of Pop etwa oder Thomas Ernsts kluge Überlegungen zu Pop und Plagiat am Beispiel von Helene Hegemann. Insgesamt eine verpasste Chance, dem angloamerikanischen Markt die deutschsprachige Popliteratur näher zu bringen, was nicht heißen soll, dass die Texte an sich nicht gut wären, sie sind nur einem Grundlagen schaffenden Band nicht angemessen.

Viel spezifischer geht Till Huber in seiner Dissertation Blumfeld und die Hamburger Schule. Sekundarität – Intertextualität – Diskurspop auf das Thema Pop und Literatur ein. Das Buch erfüllt ein lange Zeit unerfülltes Desiderat, namentlich eine intensive akademische Auseinandersetzung mit der so genannten Hamburger Schule, und insbesondere mit der Band Blumfeld zu lesen. Der Autor hat sich tief in die Materie eingearbeitet, eine Vielzahl von Sekundärliteratur – akademischer und nicht-akademischer Art – gesichtet und gewertet und die faszinierende Analyse der Lyrik einer Band vorgelegt, die mittlerweile in ihrem eigenen akademisch anmutenden Gestus recht umstritten ist.

Huber macht auch nicht den Fehler einer immanenten Analyse der Songtexte, sondern kontextualisiert das Wirken von Komponist und Frontman Jochen Distelmeyer zunächst pophistorisch und komparatistisch (hervorragend eine Kapitelüberschrift wie Von Chuck D. zu Jochen D). Dazu widmet er auch ein längeres Segment der Abkehr Distelmeyers vom Diskurspop und seiner scheinbaren Hinwendung zu privaten Themen und setzt auch dies in einen pophistorischen Kontext. Insgesamt gelingt ihm das Kunststück, einen Spagat zwischen einer akademischen Analyse und einer auch für nicht studierte Popmusikhörer lesbaren Studie zu meistern, was nicht selbstverständlich ist.

Etwas ratlos hingegen lässt einen die Dissertation von Lena Modrow, Wie Songs erzählen, zurück. Beim Untertitel Eine computergestützte, intermediale Analyse der Narrativität schrillen die ersten Alarmglocken, teils zu Unrecht, wie die Lektüre des Bandes beweist. Bereits 2011 hat Ole Petras in seiner Doktorarbeit Wie Popmusik bedeutet eine, wie sein Untertitel wiederum beschreibt „synchrone Beschreibung popmusikalischer Zeichenverwendung“ versucht, teils mit Erfolg, teils jedoch mit nicht immer nachzuvollziehbaren Urteilen, vor allem, was die Rolle des Songtextes bei der Analyse von Popsongs angeht. Lena Modrow könnte man nun zweierlei vorwerfen: dass sie in ihrer Arbeit zu viel will und dass sie sich die falschen Beispiele ausgesucht hat.

Wie Peras geht auch sie – in Teilen – von einer statischen Definition eines Pop-Songs aus, was wissenschaftlich zunächst völlig legitim ist, andererseits aber bei einer so stark genreabhängigen Kunstform oft zu kurz greift. Trotzdem ist, auch wenn der Teil der computergestützten Analyse etwas fragwürdig ist, diese Arbeit ein wahrhaft mutiger, überaus gelungener Versuch, narratologische Konzepte auf den Pop-Song anzuwenden, um daraus eine eigene Narratologie für diese hybride Gattung herauszuarbeiten. Man mag das Konzept – wie anfangs erwähnt aufgrund der kaum zu durchsteigenden Heterogenität der Kunstform – von Grund auf ablehnen, dann müsste man aber tatsächlich das Argument geltend machen, ein Pop-Songtext sei per se erst einmal als Gedicht zu werten und seine Einbettung in seinen ästhetischen und (pop)kulturellen Kontext erst der zweite Schritt.

Tatsächlich gibt es Künstler – neben Leonard Cohen sei noch John K. Samson erwähnt, auch Craig Finn, John Darnielle oder Willy Vlautin, mit Abstrichen auch noch Will Sheff oder gar Bob Dylan (letzterer zumindest phasenweise) – bei denen man tatsächlich in erster Linie von Lyrikern sprechen müsste, deren Texte in erster Instanz nicht als Songtexte, sondern als Lyrik zu rezipieren sind. Aber das ist ein interessanter Streitpunkt unter Pop-Forschern, der in anderen Publikationen hoffentlich noch eingängig diskutiert werden wird.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Margaret McCarthy (Hg.): German pop literature. A companion.
De Gruyter, Berlin, Boston 2015.
303 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783110275759

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Till Huber: Blumfeld und die Hamburger Schule. Sekundarität – Intertextualität – Diskurspop.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2016.
420 Seiten, 55,00 EUR.
ISBN-13: 9783847105947

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Jens Balzer: Pop. Ein Panorama der Gegenwart.
Rowohlt Verlag, Berlin 2016.
254 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783871348303

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Greil Marcus: Three Songs, three Singers, three Nations. Amerika in drei Liedern.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Fritz Schneider.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2016.
152 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783770560837

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Lena Modrow: Wie Songs erzählen. Eine computergestützte, intermediale Analyse der Narrativität.
Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 2016.
340 Seiten, 66,95 EUR.
ISBN-13: 9783631673652

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Claus Leggewie / Erik Meyer (Hg.): Global Pop. Das Buch zur Weltmusik.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2017.
392 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783476026361

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Greil Marcus: Die Geschichte des Rock ‚n‘ Roll in zehn Songs.
Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Fritz Schneider.
Reclam Verlag, Stuttgart 2016.
292 Seiten, 23,00 EUR.
ISBN-13: 9783150110157

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