Auf der Suche nach dem verlorenen Anfang

Eine neue Auswahl aus Marcel Prousts Briefen

Von Olaf KistenmacherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Olaf Kistenmacher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Glücklich wäre ihr Verfasser über diese Veröffentlichung wahrscheinlich nicht, denn ein Jahr vor seinem Tod, im Januar 1921, verfügte Marcel Proust, dass „von mir keine Korrespondenz aufbewahrt, mithin auch nicht veröffentlicht wird“. In der Tat stehen Prousts Briefe bei der Nachwelt in keinem guten Ruf. Samuel Beckett unterschied 1931 in seinem Buchessay Proust scharf zwischen dem Romanschriftsteller, den er verehrte, und dem „geschwätzigen alten Weib der Briefe“. Walter Boehlich, der 1964 erstmals eine Auswahl der Briefe auf Deutsch herausgab, hielt Prousts Korrespondenz für teilweise „wertlos, oft sogar abstoßend“.

Nun hat Jürgen Ritte, einer der profundesten Proust-Kenner in Deutschland, eine neue Auswahl zusammengestellt, die in zwei schönen Bänden – im Schuber und schönem lindgrünen beziehungsweise schwarzen Einband – daherkommt. Wozu der Aufwand? Ritte möchte die Entstehung von Á la recherche du temps perdu rekonstruierbar machen, die Entwicklung des Schriftstellers Marcel Proust und seines großen Werks. Entsprechend endet der erste Band 1913, im Jahr der Veröffentlichung des ersten Bands von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, und beginnt mit dem ersten überlieferten Brief des siebenjährigen Marcel an seinen Großvater. Viele versteckte Hinweise auf das spätere Werk werden allerdings erst durch die Kommentierung verständlich. So sieht Ritte in einem Brief vom September 1886, also 27 Jahre vor der Veröffentlichung des ersten Bands Du côté de chez Swann, eine – bewusste oder unbewusste – Vorübung für den Sprachstil Albert Blochs, einem der jüdischen Protagonisten des späteren großen Werks.

Es ist selten leicht, exakt den Moment zu bestimmen, ab dem ein Autor begann, sich gedanklich mit einem Romanprojekt zu beschäftigen. Bei Marcel Proust jedoch ist es besonders kompliziert. Denn Auf der Suche nach der verlorenen Zeit entstand gewissermaßen auf den Trümmern von mindestens zwei aufgegebenen Buchprojekten, dem 1899 verworfenen Roman Jean Santeuil und Gegen Saint-Beuve, bei dem Proust sich nicht entscheiden konnte, ob es ein theoretisches Werk oder ein Roman werden sollte. Genau genommen gab es sogar noch eine dritte Vorarbeit: Seit Ende 1899 übersetzte Proust Werke des englischen Kunstkritikers John Ruskin. Dieser erzählt in seinen Memoiren Praeterita die Geschichte seiner Kindheit und Jugend und damit, wie George D. Painter in seiner Proust-Biografie schreibt, „die Entdeckung seiner Berufung, und zwar zu einer Zeit, als er sich über den Sinn seines Leben schon längst im klaren ist; er bemüht sich, jeden Augenblick durch eine vorsätzliche Anstrengung der unbewußten Erinnerung, die derjenigen Prousts nicht unähnlich ist, wiedererstehen zu lassen, um so die Vergangenheit für immer gegenwärtig zu machen“. Auch die Suche nach der verlorenen Zeit ist, wie Roland Barthes in den 1970er-Jahren zeigte, die Geschichte einer Berufung. Im letzten Band, Die wiedergefundene Zeit, erkennt der Erzähler, wie er die verlorene Zeit zurückholen und aufbewahren kann, nämlich indem er sie in einem literarischen Werk verewigt. Prousts Hauptwerk, so Barthes, habe letztlich „nur eine einzige Erzählung“, die eines „Subjekts, das schreiben will“.

Berühmt ist Auf der Suche nach der verlorenen Zeit für das Konzept der unwillkürlichen Erinnerung. Danach beginnt ein ausufernder Erinnerungsvorgang, bei dem der Ich-Erzähler längst vergessene Ereignisse aus seinem Gedächtnis hervorholt. 1888 bekannte Proust in einem Brief, dass er bereits im Alter von 14 oder 15 Jahren begonnen habe, „mich in mich selbst zu versenken und mein Innenleben zu studieren“. In dem Roman wird die Erinnerung durch den Geschmack des berühmt gewordenen Gebäcks Petit Madeline in Gang gesetzt. 1898 schreibt Proust an Marie Nordlinger zu Weihnachten, dieses Fest würde „kraft der zarten Strahlung der angehäuften Erinnerungen“, wenn man Tee und Gebäck rieche, eine „Persönlichkeit“ wecken und lasse „unser Herz schneller schlagen“. 1901 erklärt er einer anderen Brieffreundin, es sei „falsch, um Dinge zu trauern, die man nicht hat. In Wahrheit kommen sie meist auf einen zu, wenn man sie nicht mehr begehrt.“ Dies sei, schreibt Ritte, die erste Andeutung einer unwillkürlichen Erinnerung – zwölf Jahre, bevor der erste Band von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit erschien.

Die Zeit ist, wie Rainer Warning in seiner aktuellen Interpretation noch einmal ausführt, in vielfacher Hinsicht für Prousts Werk stilbildend. Nicht nur blickt der fiktive Erzähler auf seine Kindheit und Jugend zurück, einerseits bemüht, seine damaligen Empfindungen zu rekonstruieren, sondern er befindet sich außerdem in einem ständigen Reflexionsprozess, der den Ereignissen der Vergangenheit nachträglich eine andere Bedeutung gibt, sie umschreibt und umdeutet. Insofern prägt die Zeitlichkeit die ganze Darstellung des eigenen Lebens, aber auch die Wahrnehmung der anderen Menschen. Im vorletzten Band des großen Romans heißt es: „Um in uns einzutreten, muss ein Mensch die Gestalt der Zeit annehmen, sich ihrem Rahmen einfügen; da er uns immer nur in einzelnen Minuten nacheinander erscheint, hat er sich uns immer nur unter einem einzigen Aspekt auf einmal zeigen können, uns nur eine einzige Fotografie von sich überlassen.“ Diesen Gedanken hatte Proust schon mehr als 20 Jahre zuvor. 1888 schrieb er an seinen Freund Robert Dreyfus, er „glaube, dass das, was wir von einem Charakter zu erahnen glauben, nur eine Folge von Gedankenassoziationen ist“.

Ein offensichtliches, aber bislang in der Proust-Forschung nicht vollständig ausgeleuchtetes Thema ist die Darstellung der Judenfeindschaft in Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, obwohl bekannt ist, dass Proust sich, wie Emile Zola und andere Intellektuelle, öffentlich für den wegen Spionage verurteilten jüdischen Hauptmann Alfred Dreyfus einsetzte. Seinem Freund Reynaldo Hahn berichtet er 1895 über ein Diner, bei dem die Gäste über Literatur diskutieren und den Charakter, das „Genie“ einer Künstlerin oder eines Künstlers „mit physischen Angewohnheiten oder der Rasse“ erklären. 1896 erklärt er Robert de Montesquieu, dass er in der sogenannten Judenfrage „nicht unvoreingenommen“ sei, da er mütterlicherseits aus einer jüdischen Familie stamme. Ein Jahr später versieht er seine Adresse mit dem ironischen Zusatz „Gesellschaft der Freunde des Verräters“ und „Syndicat Dreyfus“; und nachdem Zola seine berühmte Anklage J‘Accuse veröffentlicht hat, bezeichnet sich Proust als einen „unverbesserlichen Dreyfusard“. 1903 schildert er in einem Brief, dass die nichtstaatlichen, konfessionellen Schulen „ihren Schülern beibringen, die Freimaurer und Juden zu verabscheuen“, um so zu erklären, in welchem geistigen Klima „die Affäre gedeihen konnte“. An Geneviève Straus, in deren Salon Proust Joseph Reinach begegnete, der als einer der Ersten auf die gefälschten Beweise im Dreyfus-Prozess hinwies und eine Geschichte der Affäre verfasste, schrieb Proust 1906 schließlich über diese: „Seltsam zu denken, dass das Leben, sowenig es sonst einem Roman gleicht, dies ausnahmsweise doch einmal tut.“

Ein anderes großes Thema von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit ist die Homosexualität. Der vierte Band trägt den Titel Sodom und Gomorrha, die beiden Begriffe stehen in dem Roman, nach einem Vers von Vigny, für die männliche und die weibliche Homosexualität. In Prousts Briefen wird erkennbar, dass er eher wegen dieses Themas einen Skandal erwartete als wegen der dargestellten Judenfeindschaft. Ein Jahr bevor der erste Band erschien, im Oktober 1912, warnt er einen Verleger, der Unterwegs zu Swann drucken wollte, dass eine der Hauptfiguren, der Baron de Charlus, „ein alter Herr aus bester Familie“, später als ein „Päderast“ zu erkennen ist. An André Gide, mit dem er sich über die Darstellung der schwulen Liebe überwerfen sollte, schreibt er 1914, er sei „überzeugt“, dass de Charlus es „seiner Homosexualität verdankt“, so viel „subtiler, feinfühliger“ zu sein als die anderen Adligen.

Zu dieser Zeit ist Proust in den von Jürgen Ritte ausgewählten Briefen vornehmlich damit beschäftigt, sein Werk zu erläutern, für das er 1919 zwar den Prix Goncourt erhielt, das aber bei der Literaturkritik umstritten blieb. Zum einen verwahrt er sich gegen den Eindruck, eine – wenn auch leicht verschlüsselte – Autobiografie geschrieben zu haben. Zum anderen betont er die Komposition seines Werks. 1918 schreibt er einem Freund: „Ich wiederhole: Die Personen sind gänzlich erfunden, und es gibt keine Schlüsselfigur.“ Wie er es in einem Zeitungsinterview 1913 bereits gesagt hatte, betont er auch in den Briefen, dass der Ich-Erzähler „nicht immer ich bin“. Kurz vor der Veröffentlichung des ersten Bands erklärt Proust einem Lektor, das Buch sei „ein sehr durchkomponiertes Ganzes, obwohl so komplex im Aufbau, dass ich fürchte, keiner merkt es und es wirkt wie eine Folge von Abschweifungen. Es ist das genaue Gegenteil.“

Wie Roland Barthes gezeigt hat, besteht das Kompositionsprinzip von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit in der „Inversion“, dem Motiv „des umgekehrten Wiedererscheinens“. Figuren geben sich als andere zu erkennen, als die sie zunächst erscheinen; de Charlus, der in der Öffentlichkeit als heterosexueller Macho auftritt, erscheint später als femininer Schwuler. Die adlige Gesellschaft, zu der der Ich-Erzähler fasziniert Zutritt erlangt, entpuppt sich als „vulgäre und hassenswerte Klasse“, die „sich immer irrt, die nur Dummheiten von sich gibt“. Und so lässt sich Auf der Suche nach der verlorenen Zeit auch als ein politisches Buch lesen, bei dem am Ende – zumindest im Fall Dreyfus – die Wahrheit siegt. An einen Schriftstellerkollegen in den USA schreibt Proust 1920: „Waren Sie Dreyfusard? Ich war es mit Leidenschaft. Da ich in meinen Büchern nun aber vollkommen objektiv bin, sieht es so aus, als sei Le Côté de Guermantes gegen Dreyfus. Doch Sodom et Gomorrhe II wird völlig im Sinne der Dreyfusards sein und das richtigstellen.“

Der Biograf Jean-Yves Tadié hat beklagt, dass Prousts Korrespondenz „nichts bekennt oder vielmehr nach Abschluß des Gymnasiums mit Bekenntnissen aufhört. Bis heute ist kein einziger Liebesbrief überliefert.“ Dieser Eindruck lässt sich nach dieser Auswahl zumindest in einem Fall korrigieren. 1914 schreibt Proust an Reynaldo Hahn über seine bei einem Unfall ums Leben gekommene Liebe: „Ich habe Alfred wirklich geliebt. Nein, mehr noch, ich habe ihn angebetet. Und ich weiß nicht, warum ich das in die Vergangenheitsform setze, denn ich liebe ihn immer noch.“

Eine erhellende Briefauswahl hat Jürgen Ritte mit diesen beiden Bänden vorgelegt. Für Studienzwecke wäre eine preiswertere, weniger aufwendige Gestaltung zwar vorteilhaft gewesen. Aber diese Briefausgabe wird zu der ähnlich prächtigen Ausgabe von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit passen, die für September angekündigt ist.

Titelbild

Marcel Proust: Briefe. 1879–1922. 2 Bände.
Herausgegeben, ausgewählt und kommentiert von Francoise Leriche.
Übersetzt aus dem Französischen von Jürgen Ritte, Achim Russer und Bernd Schwibs.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016.
1479 Seiten, 78,00 EUR.
ISBN-13: 9783518425404

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