Pubertät und Polyester
Luba Goldberg-Kuznetsovas „Lubotschka“ erzählt von jugendlicher Nabelschau vor historischer Kulisse
Von Luisa Banki
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDer Debütroman von Luba Goldberg-Kuznetsova versucht sich an einem Doppelporträt: Zum einen will er die Geschichte eines knapp 18jährigen Mädchens erzählen, das in den letzten Tagen vor seiner von der Mutter beschlossenen Emigration nach Deutschland anekdotisch seine Kindheit und Jugend rekapituliert. Zum anderen soll ein Stadtbild Sankt Petersburgs in den 1990er Jahren gezeichnet werden, von dessen vielgestaltiger, kontrastreicher Größe sich das Mädchen verabschieden muss. Beide Porträts bleiben blass.
Die junge Ich-Erzählerin, die zwar gerade ihren glänzenden Schulabschluss in einem Eliteinternat gefeiert hat und sich mit Intelligenz und Witz an verschiedenen Aufnahmeprüfungen an der Universität sowie einem Job als Reporterin versucht, hat vor allem Kleider, Kosmetika und ganz besonders sich selbst im Kopf. Beständig ihre eigene Besonderheit bedenkend begibt sie sich vor ihrer Abreise gen Westen zunehmend verzweifelt auf die Suche nach der Erfüllung ihrer pubertären Phantasien von erotischen, modischen und kosmetischen Abenteuern. So bewegt sie sich zwischen letztem Shoppingtrip und erstem Sex durch das winterliche Petersburg und vermeidet weitgehend erfolgreich jede echte Begegnung. Andere – ihre Freundinnen, ihre Bekannten, allen voran ihre eigene Mutter – erscheinen nie als wirklich wahr- oder gar ernstgenommene Gesprächspartner*innen, sondern allenfalls in Nebenrollen der Erinnerungen an Kindheit und Schulzeit.
Die Ich-Erzählerin schwelgt in ihrem Gefühl, besonders zu sein, und schwankt dabei zwischen Selbstüberhöhung und Selbstmitleid: „Der Regen fühlt sich an, als würde die Stadt mit mir fühlen, sie weint für mich, bis ich selbst, gerührt von der eigenen Trauer, zu weinen anfange. […] Der Stadthimmel fühlt mehr für mich mit, als ich selbst fühle. Ich sehe mich mit seinen Augen, noch mal, und weine mehr. Das tröstet.“ Vielleicht ist es der doppelte drohende Verlust, der die Protagonistin so kindisch-pubertär und der Selbstvergewisserung bedürftig macht: Sie verlässt gleichzeitig die Sicherheit der Schule und die Vertrautheit der Heimatstadt. So ist sie auf sich selbst zurückgeworfen, beständig und ausschließlich mit sich selbst beschäftigt – wovon nicht zuletzt die Obsession, sich immer wieder in neuen Outfits und Posen zu fotografieren, zeugt. Sie tut dies bevorzugt vor historischer Szenerie und dies ist zugleich das Problem mit der Rolle, die Sankt Petersburg in diesem Roman zukommt: Die Stadt bleibt letztlich Kulisse für eine Protagonistin, die zu sehr um sich selbst kreist, um irgendein Außen wirklich wahrnehmen zu können. So wird aus der wiederholten Nennung von Straßen und Gebäuden ebenso wenig ein Stadtporträt, wie aus einer Passantin, die außer sich selbst nichts sieht, eine Flaneuse wird.
Der Roman krankt nicht an seiner zuweilen rührenden, vor allem aber nervigen Protagonistin – er enttäuscht, weil er dramaturgisch und stilistisch unausgegoren ist. Vorangestellt ist ihm ein Zitat aus J.D. Salingers The Catcher in the Rye: „I like it when somebody digresses. It’s more interesting and all.“ Die mit diesem Motto deklarierte Absicht, Lubotschka in die traditionsreiche Reihe der Romane zu stellen, die von Abschweifungen belebt werden, misslingt. Zwar findet sich auch hier Digression um Digression aneinandergereiht, wenn eine Erinnerung an die nächste anschließt und eher momenthaft die erzählte Gegenwart aufscheint, aber das strukturierende Prinzip bilden dabei nicht Assoziationen der Zentralfigur, die ihre Gedanken- und Gefühlswelt erhellen könnten, sondern erzählerisch unmotiviert wirkende Aneinanderreihungen von Anekdoten, deren Fäden sich nicht zu einem Bild verweben, sondern verlieren.
Ähnlich unmotiviert wirkt die auffällige Fehlerhaftigkeit der Sprache: Ist es das Deutsch der Ich-Erzählerin, das Mängel in Grammatik und Ausdruck aufweist? Sie erzählt aber doch im Präsens davon, noch kaum ein Wort Deutsch zu können, sodass naheliegt, die Sprache des Romans als das Russisch der Erzählerin zu lesen. Oder ist es die Autorin, die Fehler macht oder machen will? Goldberg-Kuznetsova hat sich jüngst in der FAZ zu der Beobachtung, dass ihr Roman sprachliche Fehler enthalte, geäußert und dabei die sowohl gewinnende als auch fragwürdige Erklärung abgegeben, dass ihr Deutsch nicht perfekt sei und nur als fehlerhaftes Deutsch ihre „russischen Emotionen“ ausdrücken könne. Diese konstant geforderte Übersetzungsleistung, die in vielen Texten der sogenannten „Migrationsliteratur“ Thema ist, wird allerdings in Lubotschka noch nicht einmal angedeutet – die Romanhandlung geht der Migration voraus und auf die im FAZ-Beitrag behauptete Retrospektive, also auf die Möglichkeit, dass hier eine Erzählerin gegenwärtig ihre vergangenen Erfahrungen wiedergibt, findet sich im Roman selbst kein Hinweis. Bezeichnenderweise taucht die These, „russische Emotionen“ könnten „nur mit einem fehlerhaften Deutsch wieder[ge]geben“ werden, in dem Artikel zwei Mal auf: einmal bezogen auf Goldberg-Kuznetsova selbst und einmal mit Blick auf ihre Romanfigur. Eine Unschärfe in der Unterscheidung von Autorin und Erzählerin ist in einem Roman mit offenkundig autobiographischen Elementen nicht überraschend – überraschend und ärgerlich ist die konzeptionelle Ungenauigkeit im Entwurf des Romans.
Es mangelt Goldberg-Kuznetsova keinesfalls an Material: Momenthaft blitzen bei ihr Situationen auf, die selbst Stoff für ganze Romane böten, hier aber überhaupt nicht ausgelotet werden. Nur wenn für kurze Augenblicke die Nabelschau der Ich-Erzählerin unterbrochen wird, um andere und anderes in den Blick zu rücken, finden sich Anekdoten über russisches Essen, Wohnen, Lernen und Leben, die Goldberg-Kuznetsova mit feinem Humor und einem wachen Blick für Details beschreibt. So finden sich zwischen all den langen Beschreibungen von Maniküren, Wimperntuschen und Polyesterkleidern vereinzelte kurze Passagen, die lebendige Ausschnitte eines Petersburger Stadtbildes skizzieren und dabei humor- und liebevoll Eigenheiten dieser Stadt und mancher Bewohner schildern. Da liest man von den Eigentümlichkeiten des Kwas-Verkaufs auf der Straße, von erfinderischen Maßnahmen gegen die Petersburger Winterkälte, von architektonischen ebenso wie bürokratischen Besonderheiten, da scheinen in manchen biographischen Skizzen historische Zusammenhänge auf und es entsteht so etwas wie ein wahres Interesse für Figuren und Geschichten. Nur leider wird dieses auf Leserinnenseite geweckte Interesse von der Ich-Erzählerin nicht geteilt, denn diese eilt sogleich weiter zum nächsten Friseurbesuch. So will es am Ende scheinen, als stünden Erzählerin und Leserin angesichts der Gesichts- und Geschichtslosigkeit des geschilderten Abschieds von Sankt Petersburg vor dem gleichen Ärgernis: „…dass ich mir ja doch nichts merken kann, außer Schnee und Passanten.“
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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