Kleists ,Hypochondrie‘
Zu seinem Verständnis in klassischer und moderner Ästhetik
Von Walter Müller-Seidel
Das Jahr 1809 ist in Kleists unruhigem Leben ein krisenhaftes Jahr, nicht das erste. Krankheiten und Krisen hatte es schon zuvor gegeben: im Zusammenhang der Würzburger Reise im Jahre 1800, was immer auch ihr Anlaß war[1]; erst recht 1803, nach den stürmischen Monaten in Frankreich, als er im Begriff war, in französische Kriegsdienste zu treten, um auf diese Weise am ehesten „den schönen Tod der Schlachten“ zu sterben, wie es in einem Brief an die Schwester heißt.[2] Von einem Zusammenbruch sprechen seine Biographen, als er im Hause des Arztes Wedekind in Mainz Aufnahme fand.[3] Was da geschehen ist, bleibt ihm selbst rätselhaft und unerklärlich: „Ich bin nicht imstande vernünftigen Menschen einigen Aufschluß über diese seltsame Reise zu geben. Ich selber habe seit meiner Krankheit die Einsicht in ihre Motive verloren, und begreife nicht mehr, wie gewisse Dinge auf andere erfolgen konnten.“[4] Aber mit gleichem Recht kann von einem Zusammenbruch im Jahre 1809 gesprochen werden, als Kleist nach der unglücklichen Niederlage Österreichs bei Wagram für mehrere Monate, von Mitte Juli bis Ende Oktober, nicht aufzufinden war. Gerüchte, er sei in Prag verstorben, gelangten nach Berlin.[5] Es war zweifellos eine der nicht wenigen düsteren Phasen in seinem Werdegang.
In eben dieser Zeit spricht man in Weimar über ihn, kein anderer als Goethe ist es, der sich in einem Gespräch mit dem Schriftsteller und Privatgelehrten Johann Daniel Falk über Kleist unterhält. Über Käthchen von Heilbronn wird gesprochen, aber im Mittelpunkt dieser Gespräche steht die Kunstform der Novelle, die es Goethe wenigstens seit den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten angetan hatte. Den düsteren Weltbegebenheiten im benachbarten Frankreich hatte er etwas Heiteres im Stil altitalienischer Novellen entgegenzusetzen gesucht; und daß Kleist mit dieser Kunstform anderes im Sinn hatte, entging ihm nicht. In den uns überlieferten Zeugnissen heißt es: „Einst kam das Gespräch auf Kleist und dessen Käthchen von Heilbronn. Goethe tadelt an ihm die nordische Schärfe des Hypochonders; es sei einem gereiften Verstande unmöglich, in die Gewaltsamkeit solcher Motive, wie er sich ihrer als Dichter bediene, mit Vergnügen einzugehen. Auch in seinem Kohlhaas, artig erzählt und geistreich zusammengestellt wie er sei, komme doch alles gar zu ungefüg. Es gehöre ein großer Geist des Widerspruches dazu, um einen so einzelnen Fall mit so durchgeführter, gründlicher Hypochondrie im Wettlaufe geltend zu machen. Es gäbe ein Unschönes in der Natur, ein Beängstigendes, mit dem sich die Dichtkunst bei noch so kunstreicher Behandlung weder befassen, noch aussöhnen könne. Und wieder kam er zurück auf die Heiterkeit, auf die Anmut, auf die fröhlich bedeutsame Lebensbetrachtung italienischer Novellen, mit denen er sich damals, je trüber die Zeit um ihn aussah, desto angelegentlicher beschäftigte.“[6]
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Der Beitrag gehört zu
Walter Müller-Seidel: Literatur und Medizin in Deutschland (2018)