Hölderlin in Homburg
Sein Spätwerk im Kontext seiner Krankheit
Von Walter Müller-Seidel
Spätwerke in Literatur, Musik und Malerei haben ihren eigenen Stil.[1] Diese Auffassung ist heute in den Kunstwissenschaften kaum noch umstritten. Der Stilwandel, der sich damit verbindet, läßt nach den Ursachen solchen Wandels fragen. Man erklärt ihn häufig aus dem biologischen Lebensalter oder bringt ihn damit in Zusammenhang. Von Altersstil oder Alterskunst wird gesprochen. Nicht selten werden Begriffe wie „Spätwerk“ und ,,Alterskunst“ synonym gebraucht. Es ist in jedem Fall eine Vielzahl von Faktoren, die man zur Erklärung heranzieht. Das Spätwerk Hölderlins ist ein Werk sui generis und eigentlich unvergleichbar mit anderen. Von Alterskunst kann nicht entfernt die Rede sein; denn es ist ein Dreißigjähriger, mit dem wir es zu tun haben. Auch zeitgenössische Ereignisse, denen eine stilverändernde Bedeutung zukommen könnte, sind nicht zu ermitteln; und daß sich das Späte dieses Spätwerks aus der Beschäftigung mit einem Dichter wie Pindar erklären soll, widerspricht jedem geschichtlichen Sinn. Im Grunde sind uns die Literarhistoriker die Antworten auf solche Fragen schuldig geblieben. Da ist es so abwegig keinesfalls, die Krankheit in die Erörterung einzubeziehen, wie es hier und da schon geschehen ist, zumeist ohne nähere Begründung. Gedanken dieser Art findet man bei Wilhelm Dilthey ausgesprochen. An der Grenze des Wahnsinns, so Dilthey, werde der letzte Schritt seiner künstlerischen Entwicklung und seiner Sprache getan. ,,Es ist darin eine eigene Mischung von krankhaften Zügen mit dem Gefühl des lyrischen Genies für einen neuen Stil“, heißt es an anderer Stelle seines berühmten Essays.[2] Das ist nicht herabsetzend gemeint. Noch weniger läßt die Tübinger Rede des Schriftstellers Martin Walser an eine Diskriminierung denken, wenn er beiläufig bemerkt: „Die Krankheit gehörte so sehr zu den Bedingungen seines Stils, daß es keinen Sinn hat, sich auch da noch pseudohölderlinisch auszudrücken und zu sagen, er sei in eine ,Umnachtung‘ gefallen, gar noch in eine seelische“.[3]
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Der Beitrag gehört zu
Walter Müller-Seidel: Literatur und Medizin in Deutschland (2018)