Schwarzort

Schwarzort

19.8.2011

Hitler saß da.
Ich stand unsicher auf meinen Füßen im Sand und wusste nicht: Wie muss ich das jetzt machen mit dem Arm? Wie geht das?
Hitler war freundlich zu meinen Kindern. Und ich dachte: Wie kann ich das später einmal erzählen, das darf doch nicht sein. Ich schämte mich. Auch noch beim Aufwachen.

Der lange Atem der Wellen bei Ostwind.
Heute Abend bei Hallwitz. Wie ich mich darauf freue. Als ich die beiden Alten am Strand nach Hause gehen sah, nachdem wir uns gerade für den Abend verabredet hatten, – sie wackelig mit ihrer operierten Hüfte und er auch unsicher und vorsichtig, dieser große Mann, den Rauhaardackel an der Leine, der sich bei jedem kleinen Aufenthalt in den Sand schlafen legt – da spürte ich, wie gern ich die beiden habe. Eine Welle von Wärme und Zuneigung ist durch mich gelaufen. Wie eine ganz, ganz alte Liebe.

Meine dunkelblauen Sylt-Bermudas sind aus meinen Fahrradkorb verschwunden, als ich mir gerade die Bilder vom Krähenfang im Museum angesehen und mir dabei vorgestellt habe, wie es für einen Menschen sein muss, einem Vogel den Hals durchzubeißen. Jetzt brauche ich Ersatz für die Bixen.
Drei junge Frauen haben gestern Deutsch mit mir gesprochen. Gelernt in der Schule als erste Fremdsprache. Da haben sie die Wahl zwischen Deutsch, Englisch und Russisch.
Wenn die Ansichtskarten, die mir gestern in die Hände gefallen sind, Briefmarken und Kasten gefunden haben, kann ich umkehren. 

20.8.2011

Da jagt man doch keinen Hund vor die Tür! Nein, wirklich nicht – wer will schon das Wasser so um die Ohren gepeitscht bekommen.
8.00 Uhr – Es soll der Abreisetag von Nidden/Nida werden, und es regnet so sehr, dass ich mein Rad gar nicht ins Auto holen kann. Ich warte. Schlafend, lesend. An der See ist heute wieder Sylt, man kann es hören.
12.00 Uhr – Auch am Haff keine Ruhe. Nach zwei Böen sind meinem Schirm wieder Speichen gebrochen. Blöde Idee: der Schirm! Die Schwalben am Boden wie sonst. Ich sitze ratlos vor meiner Kaffeetasse. Immer noch. Obwohl sie schon lange leer getrunken ist.

Ist mit dem Abend, den ich zum Abschiedsabend von Nidden/Nida erklärt habe, mehr zu Ende als „Nidden“?
Oder ist es nur die Frage: Wie geht es weiter? Oder: Wann breche ich nach Norden auf? Und was erzähle ich mir noch von hier?
Herr und Frau Hallwitz: Dreimal laufen wir uns im Ort über den Weg, sie fahren einkaufen, ich suche Geld. Als ich das gefunden habe, treffe ich sie im Supermarkt wieder, ihr Korb ist schon voll, unter vielem anderen: Hackfleisch. Das sieht mir nach Königsberger Klopsen aus. Geht wohl nicht anders.
Gut waren sie dann, und die Kartoffeln so „mehlig“ – wie sie eben sein müssen, von wegen Bio oder so.
Es war auch gut, ihnen zuzuhören mit den vielen Geschichten. Dass Karl die Pferde der Schule vorgezogen hat. Dass Ilse gerade auf dem Topf saß, als der Führer vorbei kam. Und wie wütend ihre Mutter war: „Da kann ja jeder Führer werden!“ – „Kann der Papa auch Führer werden?“ – „Nein!!!“

Das junge Paar mit dem Kind. Sie trug eine hübsche Mütze und hatte ein großes offenes Lächeln. Ich bin ihnen ein paarmal am Übergang begegnet am Abend, wenn sie nach Hause gingen und ich mit aufgepacktem Fahrrad zum Schlafen kam. Diesmal lächelten sie mir von weitem entgegen und sagten, sie würden mich bewundern, sie könnten es sich nicht vorstellen, so die Nacht zu verbringen. Da kann ich sie beruhigen: „Ich habe das auch erst angefangen, als ich schon sechzig war. Da habt ihr noch viel Zeit!“ Wir gehen mit einem „Schönen Abend!“ unserer Wege, sie den ihren, ich den meinen. Sie kommen aus Vilnius, „wie alle“ , sagen sie.
Meinem Audi-Nachbarn, auch aus Vilnius, ist mittlerweile ein Stoppelbart gewachsen und der ist weiß. Und sie schaut nackt viel schöner aus als in den Klamotten, die sie sich zusammengestellt hat. Da bin ich hier doch anderes gewöhnt.

Jetzt gehe ich Halsbonbons kaufen, nach der Fähre fragen und essen mit einem Bier, um dann einen Mittagschlaf am Hafen zu machen. Auch ein Programm für den Regen.

21.8.2011

Preila/Preil
Der Himmel ist offen und blau. Ich habe Nidden/Nida hinter mir gelassen, nachdem ich am Hafen wunderbar geschlafen habe. Das Dach offen, der Wind hatte es geschafft, den Regen zu verjagen und die Wolken an den Horizont gedrückt, ein halber Mond, dann ein rosaroter Himmel dort, wo die Sonne heraufkommen würde. 

Glückliche Entdeckung der letzten Stunde: ein Platz in der ersten Reihe. Saturday night in Nida.
Es gab eine Hochzeit am Hafen, die zweite, die ich dort gesehen habe. Locker, stürmisch, unfeierlich. Wer ist der Bräutigam? Es gibt drei weiße, meist recht enge Anzüge und einen schwarzen Anzug. Der Jüngste im weißen Anzug reicht für das Foto der Braut eine Hand über den roten Sportwagen, so muss er es sein. Dann setzt es sich neben die Braut hinters Steuer und gibt Gas für eine scharfe Kurve. Die anderen Autos mit weißen Schleifen folgen hupend. Sehen so die Hochzeiten aus, denen bald eine Scheidung folgt? Damit liegen die Litauer in Europa an der Spitze. Steht in meinem Reiseführer.

Heute Morgen haben mich die Schwalben geweckt mit ihrem Hin und Her und Drunter und Drüberweg. Nicht nah, nicht weit: Männerstimmen, ruhig, mit nur kleinen Pausen. Angler. Ich mache einen langen Spaziergang am Haff und fotografiere mal wieder Kurenwimpel. Die Schwalben schwirren, und die Möwen schreien jämmerlich, die Kormorane schreien nicht. Sie halten ihr Gefieder zum Trocknen in die Sonne und schütteln dabei die angewinkelten großen Flügel, weil sie doch kein Fett in den Federn haben wie die anderen Vögel. Bei den Booten der Fischer tut sich gar nichts, es ist Sonntag. Später kommt einer, er zieht mit einer riesengroßen Spritze Wasser aus seinem Boot und spritzt es ins Hafenbecken. Erst vorne, dann hinten, wo er es durch eine Klappe heraufholt.
Ich wechsle wieder die Seiten der Halbinsel, wie gestern Abend quer durch den Kiefernwald, Ich nehme das Auto mit, denn ich will nicht wiederkommen, sondern nach Norden ziehen. Heute, wo doch wieder mal Sylt ist. Wellen, die den Sand unter den Füßen wegziehen und den Kopf eintauchen wollen. Als ich vom Strand gehe, zieht der Rettungsschwimmer die rote Fahne auf. 

Preila/Preil raucht und riecht schon am frühen Morgen. Da ist für mich wieder Afrika drin. Irritierend. Stören soll es mich nicht.
Nach Norden weiter auf der Insel: Ptevalka/Perwelk. Ja, von jetzt an werde ich „Insel“ sagen, wo doch das Land nach 50 Kilometern zu Ende ist.

Die hohen Bäume und ich. Was ist die Bezugsgröße für groß oder nicht groß, wenn nichts weiter da ist als Bäume und ich? Heute sind sie jedenfalls wieder besonders groß.
Jetzt ist es noch nicht Mittag – „Klein-Mittag“ – und ich laufe schon die dritte Promenade ab an diesem Sonntag. Seit mein Fuß wieder kann, fährt mir das Laufen förmlich in die Füße. Immer wieder und immer weiter. Auch jetzt!

22.8.2011

Juodkrante / Schwarzort

Regen. Die Enten gehen an Land. Das grandiose Morgenrot hatte mal wieder Recht. So wie gestern die Schwalben, als sie vom Boden abgehoben haben, nicht zu hoch, aber immerhin. Das habe ich dann missverstanden und dachte gleich daran, am Strand zu schlafen.
Wenn ich nicht so ratlos gewesen wäre.
Da habe ich noch eine Woche, und was war, das war gut. Ich könnte jetzt gehen, fahren. Aber da ist noch diese Woche. Zugabe, Geschenk, geschenktes Glück, mit dem ich nichts anfangen kann – denn, was ich „ratlos“ genannt habe, ist Traurigkeit. Ich bin wieder allein. Niemand mehr, nach dem ich Ausschau halte wie nach einem, den man gerne wiedersieht. Die alten Ostpreußen – ich bin dankbar für die Zeit, die wir miteinander hatten. Nun bin ich auf dem Heimweg. Auch wenn es jeden Tag nur ein paar Kilometer sind, ist schon das Abschiednehmen dabei, wenn ich weiß, dass ich an diesen Ort nicht mehr zurückkomme.
Aus mit dem FLOW?  Kann es auf dem Rückweg noch die Spannung geben, wenn man ihn noch gar nicht kennt? Schwarzort – ach ja – abkürzen? Überholen? 

Ich habe dann doch alles vom Strand mitgenommen, lieber schleppe ich mein Zeug hin und her, als dass ich mir vorgreife. Und bin zuhause geblieben mit dem Auto in den Dünen und habe Grillen und Wellen gleichzeitig im Ohr auf dem neuen Parkplatz bei Prevalka. Bei einem polnischen Wohnbus und einem litauischen Wohnwagenappartment. Später kamen noch drei PKW, ein Este, zwei Litauer. Alles Paare. Der Este war etwas zu lang für die flache kleine Mazda-Limousine, er sah ziemlich unausgeschlafen und missmutig aus, als er heute Morgen heraus kam. Sie rief munter „Good Morning!“ und suchte das Klo auf. Die anderen schliefen noch. Über der Kopfstütze des Beifahrersitzes des Kombi hängt ein lachsfarbener BH.
Nein, allein war ich hier nicht.

Unter meinem Ausschnitt des dicht bestirnten Himmels hatte ich mir vor dem Einschlafen eine Radtour zu denn Toten Dünen ausgemalt. Das wird nichts. Der Himmel hat zugemacht. Es bleibt nur das Auto. Als ich beim Nationalpark ankomme, spüre ich die ersten feinen Tropfen, auf dem Rückweg regnet es schon.
Beim Aussteigen lässt sich eine kleine Spinne herunterfallen und will gerade den Faden wieder hinauf. Sie ist es also. Nicht die fette, die in der Ecke des Faltdachs hockte. Wo die jetzt wohl ist?
Es hat sich eingeregnet. Auto. Bett. Buch. Schnell nehme ich noch einen geräucherten Fisch mit, wie sie ihn hier stapelweise anbieten. Die Frau steht nun schon die Stunde, die ich bei meinem Kaffee sitze, ein paar Meter neben mir und hat keinen einzigen Fisch verkauft. Kommt doch kein Mensch bei dem Wetter. Aber ich brauche dann mittags nicht „aus dem Haus“, wenn es weiter so schüttet. Enten ziehen im Gänsemarsch vorbei.
Und morgens war die See Sylt bei Ostwind. Ruhig, glatt, sanft mit leisen Wellen. Und wieder wollte mein Fuß loslaufen wie ein Hund, wenn das Frauchen aufsteht und sagt: komm! 

Von Schwarzort kann man nur mit Füßen oder Fahrrad hinüber an die See. Es hat gedauert, bis ich das kapiert habe, zweimal verfahren, einmal hin, einmal her, rundherum… Durch den Wald führen viele Wege, aber nicht für ein Auto. Die alte Poststraße von Memel nach Königsberg läuft hier am Haff entlang. Habe ich beim Herfahren gar nicht gemerkt vor lauter Was-mach-ich-mit-dem-Leuchten. Der Regulator schlägt acht Mal. Mein Auto steht am Hafen, wo die Wismar liegt, mit der man die Dünen, anschauen fahren kann, auf die man nicht gehen darf. 

23.8.2011

Na dann eben nicht: Kaffee beim Schreiben mit Blick auf das stille Haff in der Sonne. Sonne – ja, Haff – ja, Blick – auch, aber kein Kaffee. Der ist nur laut und weiter hinten zu haben. So gehe ich noch näher ans Wasser und die Treppen hinunter und da sitze ich nun. Gibt es einen schöneren Ort für mich heute? Schwarzort heißt er, Joudkrante.

Da hatte ich meinen Sonnenaufgang am Haff. Ich höre es schon wieder:

Morgenro-ot, Morgenro-ot, 
leuchtest mir zum frühen To-od. 
Gestern noch auf stolzen Ro-ossen, 
heute durch die Brust gescho-ossen, 
morgen in das kühle Gra-ab. 

Morgen in das kühle Gra-ab.

Das ist mir von meinem Vater geblieben für jeden roten Morgen. Dann weiß ich, dass Schlechtwetter kommt.

Bei dem Rot um halb sechs waren schon Angler da. Gestern sind sie gegangen, als es dunkel wurde. Da war gerade noch viel Leben auf dem Platz vor mir. Das war dann plötzlich vorbei. Wie abgestellt. Nicht langsam verklingend, sondern so, als wäre gar nichts gewesen. Und dabei war es gerade noch richtig rund gegangen mit Rollern, Rädern, Skateboards, ja mit Füßen auch. Ich dachte schon, ich würde mir einen anderen Ort zum Schlafen suchen müssen. Aber dann war es so still wie nachts in einem Dorf.

Die Sonne war noch nicht herauf gekommen, da schabt schon ein Besen herum. Eine Frau mit neongelber Weste fegt den Platz. Immer mehr Angler kommen, nach zehn Männern auch eine Frau. Ein Auto mit offiziellem Zeichen hält neben mir, zwei Uniformierte steigen aus. Ich habe mir noch nicht abgewöhnt zu fürchten, ich könnte der Stein des Anstoßes sein. Bin ich – wie immer – nicht. Einer der beiden geht eine rauchen, der andere zu den Anglern, um sich Bescheinigungen zeigen zu lassen. Fast alle ziehen etwas aus ihren Taschen. Wem gehören die Fische, wenn sie gerade aus russischen Hoheitsgewässern herüber geschwommen sind? Klein sind die meisten, ich würde sie zurückwerfen, damit sie noch leben und wachsen können. Bei einem jungen Fischer verschwindet so ein Fischchen in der Hand, als er es von der Angelschnur zupft. Dann wieder ein Schluck aus der Bierdose. Die weiße Katze, die mir über den Weg läuft, hätte das Fischchen mit drei Happen verschluckt.
Ein Kutter – die Wismar – wartet auf den Abend, wenn sie von Juodkrante zu den Toten Dünen fährtdie manche Dörfer unter sich begraben haben, um den Besuchern die Dünen zu zeigen, in denen man nicht herumlaufen darf. Schiffe riechen doch überall gleich. Das Eisen, das Öl, die Maschinen, und die Fische.

Als ich bei meinem Morgenspaziergang am Haff einen freien Blick nach Norden habe, da bekomme ich doch einen Schrecken: Da sind hohe Häuser! Das ist Klaipeda – Memel ! So nah schon?!? So wirklich?
Gestern habe ich mich noch überzeugen müssen, dass ich die geplanten drei Wochen durchhalten werde. Auf Sylt hat es auch immer die Frage nach früherem Aufbruch gegeben, das kenne ich doch. Es hat mit dem Wetter wenig zu tun. Das bringt heute wieder einen offenen Himmel. Einen Tag ist es so, einen so. Sooo viel Regen und sooo viel Sonne. Im Restaurant hat mich die junge Frau, die bediente, Deutsch angesprochen. Warum? frage ich sie. Sie lächelt, und als sie mein Bier bringt, meint sie: Ich bin eine Frau, ich spüre das.
Ich erkenne die Deutschen auch, glaub ich, zaghaft, freundlich-zurückhaltend die Frauen, die Männer eher forsch: Da bin ich!
Ich gehe in jedes neue Land zurückhaltend und freundlich. Neringa ist für mich ein neues Land geworden, das mir gefällt und mich neugierig macht. Litauen eben. Auch die Menschen: Litauer eben. Wo die Frauen manchmal singen, wenn sie ihren Kinderwagen schieben.
Ein junges Paar kommen durchs Unterholz vom Haff herauf. Er trägt einen sehr großen Rucksack, in dem ein Zelt und Matten Platz haben, sie trägt nur einen sehr kleinen Rucksack und einen großen Bauch. Siebenter Monat bestimmt. Damit kann man wandern und zelten.
Das Wasser ist hier so grün, so grün!

24.8.2011

Das Rot vor Sonnenaufgang habe ich bekommen. Jetzt will mir eine winzige Spinne den Ausgang versperren. Ein Angler schmeißt seine kleinen Fische einfach hinter sich auf den Beton. Da atmen sie nicht mehr lange.

Warum ist da gerade das Gefühl, zu Hause zu sein? Weil ich nicht suchend herumschauen muss, sondern weiß, wo ich mir den Kaffee ins Haus holen kann? Und dass ihn mir der Automat nicht beim ersten, zweiten oder dritten Einwerfen einer Zwei-Lit-Münze rausrücken wird, aber irgendwann dann doch?
Oder weil das ni-e, ni-e in dem Gespräch der weißhaarigen Frau in Kittelschürze mit ihrer Nachbarin, die gerade mit einem Strohbesen ohne Stiel, tief gebückt wie die Afrikanerinnen, den Bürgersteig fegt, so oft vorkommt und dabei so gedehnt ausgesprochen wird, ni-e, ni-e . Wenn ich die Vokale vertausche, ist es nei-j, nei-j. Als die Frau mit dem Fegen fertig ist, wird das Fenster geöffnet, auf das ein ZUVIS – Schild aufmerksam macht. Wie an jedem Fischerhaus an der Rezos, so heißt hier die alte Poststraße am Watt, wo es den Räucherfisch in allen Größen und Formen gibt.
Oder – noch ein Grund fürs Zu-Hause-Fühlen: Weil ich das Licht über dem Watt geschenkt bekomme, dieses Flimmern und Glitzern, während ich mit dem guten Automatenkaffee bei offener Schiebetür in meinem Bett in der Sonne sitze, neben dem Skulpturenpark. Das Dach ist gerade zu, weil es schon mal zu regnen anfing. Die Schwalben schießen so nah am Boden vorbei, dass sie fast das Gras streifen. Sie können sich nicht auf eine Meinung einigen. Vielleicht wird es ein Tag, von dem ich morgen sagen werde, so wie ich es gestern von vorgestern, dem Starkregentag, getan habe: Ich verzeihe dir alles! 

Diesen Satz habe ich auch auf Sylt schon von mir gehört. Eine ganze Weile geht es schon so, der Wechsel zwischen sehr hell und sehr nass, viel Licht und viel Regen.
Habe ich mich dort eigentlich zu Hause gefühlt? Natürlich kenne ich die Insel sehr gut, kein Wunder nach mehr als 20 Aufenthalten, sie ist mir so vertraut wie ein Zuhause. Bei jedem Wetter weiß ich, wohin ich zu gehen habe.
Manchmal, nicht oft, sehr selten eigentlich, suchte ich dort einen Schwatz. So einmal auf dem Campingplatz von Hörnum, wo ich meine Verbundenheit mit dem Ort zum Ausdruck bringen wollte, indem ich die Veränderungen wohlwollend bemerkte: „Das war voriges Jahr noch nicht!“ Der Verkäufer, der meinen Wunsch nach zwei Brötchen gerade zurückgewiesen hatte mit dem Hinweis, die müsse ich einen Tag vorher bestellen, machte dazu die Bemerkung: „Nu is es so.“ Fertig. Und tschüs. Unfreundlich war das nicht. Es is so.

Mir ist noch kein Litauer unfreundlich begegnet, wenn ich etwas gefragt habe. Obwohl ich Deutsche bin ?!? Was man ja, wie schon gesagt, meistens merkt, aber nicht immer: Gestern muss ich das Laba diena gut hingekriegt haben, als ich in das alte Schiff stieg, um dort zu essen, hat die Bedienung ganz selbstverständlich Litauisch mit mir geredet. Ich kam erst gar nicht dazu, um Englisch zu bitten. Fand ich gut.

Zum Schlafen an der See muss ich abends noch einmal durch den Wald. Ohne Sylt hätte ich die Nehrung nicht so gut verstanden und Orte für ihre unterschiedliche Eignung erkannt.
Vom Nachmittagsstrand bin ich herübergelaufen zum Haff, um dann mit Rad und Matte und Schlafsack wieder hinüberzufahren und zu steigen. Drüben bin ich oben geblieben zwischen Dünengras und Strandhafer. Nirgends sind die Wellen so laut zu hören wie dort. Nur ein paar Schritte von den Grillen entfernt. Hier kreucht und fleucht und krabbelt es ganz schön um mich herum. Zuerst sind die Spinnen noch munter. Eine lässt sich fallen von der Spitze eines Halms, klettert an ihrem Faden wieder hoch, das macht sie noch mal und noch mal, dann bleibt sie in der Mitte zwischen zwei Halmen hängen. Da hing sie heute Morgen noch.
Zwei andere Spinnen scheinen sich um den Platz zwischen zwei Strandhaferhalmen gestritten zu haben. Die gingen aufeinander los. Immer wieder noch einmal. Dann verzog sich jede auf eine andere Dolde. Auch die waren heute Morgen noch an derselben Stelle. 

Manchmal weht mich ein eigentümlicher Schmerz an zwischen Glück und Trauer. Bald ist es so weit. Es sind die letzten drei Tage. 30 km sind es von Nidden/Nida,  jetzt noch 20 bis Memel. Ich habe in der Milchstraßennacht die Lichter der Stadt gesehen.
Heute habe ich einen Termin: um 19.00 auf der Wismar. Mit dem kleinen alten Schiff zu denn Toten Dünen. Mal ganz was anderes: ein Tag mit Termin.

25.8.2011

Passt dann wohl doch (noch?) nicht – ich hab ihn verpasst. Das war ganz schön schwierig hinzukriegen. Ich musste dafür Rad fahren, auf Dünen steigen und durch Wälder laufen, zweimal schwimmen, dazwischen gut litauisch essen und schlafen, – verschlafen könnte man sagen – und am Strand entlang Spielsteine sammeln und schließlich mein LEICA-GPS falsch verstehen. Das zeigt nämlich bei Kaliningrad Oblast unsere Sommerzeit. Kam mir schon komisch vor bei diesem Sonnenstand, aber eine richtige Sonnenuhr hatte ich ja nicht. Also zurück durch den Wald und über die Düne und meinem gespannten Blick zur Anlegestelle zeigt sich: nuscht. Die Wismar ist weg. Blöd. Soll ich mich jetzt ärgern? Und mir vorstellen, was ich gerade nicht sehe? Immerhin: Das Licht zum Fotografieren ist schlecht, zu dunstig für Dünen. Also gibt es Rotwein und Muscheln am selben Platz wie gestern auf dem alten Schiff. Nicht mehr zurück durch den Wald, sondern gleich ans Haff. In Juodkrante kaufe ich noch ein, ich weiß nicht, wie die Versorgungslage bis Smiltyne/Sandkrug sein wir, könnte auf Bier und Chips hinauslaufen. Also zwei Zuvis durch eines der Fenster, wo ich drei Tage reingeschaut habe. Und Bier und Wein und Nüsse und ein Schokoladeneis. Damit gehe ich zum Auto zurück und fahre los. Juodkrante ist schon zu Ende, als ich merke: etwas fehlt. Das Fahrrad. Ich habe es am Lebensmittelgeschäft stehen lassen. Also eine Ehrenrunde. Auch gut. Und dann noch mal dasselbe.
Es ist, als wäre ich diese Straße noch nie gefahren. Aber es gibt doch nur die eine alte Poststraße. Bin ich in der Nacht angekommen? Nein, es war heller Nachmittag. Aber ich hatte nichts anderes im Kopf als die leuchtende Anzeige. Da habe ich nichts mehr gesehen. Und die leuchtet noch immer, nur macht es mir nicht mehr so viel aus, seit mir ein Kundiger aus Saarbrücken mir erklärt hat, was das bedeutet.
Ich nehme den ersten der beiden angekündigten Parkplätze, da sind es zum Wasser nur ein paar Schritte. Ostwind macht es unruhig. Auf dem Platz steht schon ein Kombi mit dunklen Scheiben und einem rot-blau-blinkenden Licht auf der Kühlerhaube. Das hört zu blinken auf, wenn sich nichts bewegt, fängt aber bei der kleinsten Bewegung, die ich selbst kaum wahrnehme, wieder an. Ach so. Na dann kann ich mich ja auch beschützt fühlen. Schlafen kann ich trotzdem nicht. Zu viele Spinnen tummeln sich munter um meinen Kopf herum. Als ich mal kurz einschlafe, wache ich auf, weil ich es atmen höre. Da habe ich dann doch Herzklopfen. Was kann das sein? Soll ich die Tür zumachen? Aber dann würde es drüben wieder blinken. Bis ich erkenne: Es ist das Wasser. Heute atmet es hier.

Um das russische Soldatendenkmal tummeln sich zwei Hunde. Der große bespringt den kleinen. Der will was von meinem Müsli. Kriegt er nicht. Ich höre Schüsse. Drei einzelne und dann so etwas, das man „Salve“ nennt, glaub ich. Dann Pause und noch mal. Was soll das?

Gestern Abend war die See ein Bild reinen Friedens. Als könnte sie dir kein Härchen krümmen, kein Wässerchen trüben. Als könnte es auf dieser Welt nichts Gefährliches, Bedrohliches und Böses geben.
Jetzt wird es wieder Abend. Über der See ziehen von Norden schwarze Wolken gegen das Licht, das noch auf dem Wasser liegt. Der Wind hat von SO auf SW gedreht und treibt den feinen Sand flach über den Strand. Da ist ein Handtuch schnell versandet. Ich bin müde. Zu müde, um das Fahrrad noch einmal auszupacken und am Strand entlang zu radeln, wie es hier so viele tun. Das muss Spaß machen, aber nicht, wenn man so müde ist wie ich jetzt.

Nun sind die Haare in der Ostsee gewaschen, die Beine rasiert, die Zehennägel geschnitten, die Fingernägel gefeilt. Ja, es ist Zeit, und Zeit ist vorbei. Ich bin mit meinen Füßen zufrieden, besonders mit dem rechten, mit den Händen auch, nur nicht mit dem schwarzen Daumen. Morgen verlasse ich die Nehrung. Heute schmeckt alles nach Abschied.
Da wäre kein Schmerz, wenn da nicht ein Glück gewesen wäre.
Altwerden ist dort schön, wo die Zeiten durch den Körper fließen. Der Wind auf der Haut, wenn ich ganz vorne am Wasser liege, in dem Wellenschlag alle Kinderstimmen schwirren höre, die es gab unter denen, die es gibt.