I.3. Stilistische Textmerkmale

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3.1.2 Präskriptive und deskriptive Stilistik

Die Untersuchung stilistischer Textmerkmale ist bis heute in hohem Maße von den Traditionen der Rhetorik geprägt. Die rhetorisch ausgerichtete Stilistik wurde erst im 20. Jh. den Erkenntnissen der modernen Linguistik – z. B. auf den Gebieten der Grammatik, der Semantik oder der Pragmatik – angepasst. Die Beschäftigung mit Stil verlor damit auch den Anleitungscharakter, der ihr seit der Antike bis in das frühe 19. Jh. hinein noch anhaftete. Spätestens seit Wolfgang Kayser unterscheidet die Stilforschung mit Nachdruck präskriptive von deskriptiven Stilistiken (vgl. Kayser 1948/1992, 272 f.). Die präskriptive Stilistik überlebte fast ausschließlich auf dem Feld der populärwissenschaftlichen Stilkunde (Stilratgeber), der journalistischen Sprachkritik und der schulischen Stildidaktik.3 Sie ist dort noch immer geleitet von der Vorstellung, die ›Kunst des Schreibens‹ sei nach Regeln erlernbar. Im Übrigen aber gilt die präskriptive Stilistik als überwunden. Die literaturwissenschaftliche Stilistik hat im Gegensatz zur Tradition der Anweisungspoetik im Normalfall einen deskriptiven Charakter; sie widmet sich der möglichst exakten und empirisch falsifizierbaren Beschreibung und Erklärung von Stilphänomenen in Einzeltexten oder Textgruppen. Das bedeutet nicht, dass sie sich vom Paradigma der antiken Rhetorik vollends verabschiedet hat. Es ist vielmehr so, dass sie sich, auch zur Rekonstruktion traditioneller Theorien, auf die Erkenntnisse moderner Disziplinen wie der Linguistik, der Semiotik, der historischen Anthropologie, der Kulturtheorie oder der Erzähltheorie stützt.

3.1.3 Mikrostilistik und Makrostilistik

Ebenfalls in Analogie zur linguistischen Stilforschung unterscheidet die literaturwissenschaftliche Stilforschung die zwei Ebenen der Mikrostilistik und der Makrostilistik (vgl. Riesel/Schendels 1975, 3; Sowinski 1991, 72–74). Während sich die Mikrostilistik auf die morphologische und syntaktische Ebene der Sprache bezieht (Wortwahl, Wortkombination, rhetorische Figuren, einzelne Stileigenheiten etc.), widmet sich die Makrostilistik der stilistischen Qualität ganzer Texte oder zumindest umfangreicherer Textteile (Komposition, Stilarten, Stilzüge, Stilfärbungen, Funktionalstile, Erzählperspektiven, Rededarstellung, Textsortenwahl etc.). Eine noch immer auf den Einzeltext bezogene Makrostilistik findet ihre Erweiterung in der Untersuchung textübergreifender Merkmale, zu denen Autorstil, Epochenstil oder Regionalstil gehören. […]

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