II.6.13 Psychologie
Leseprobe
Von Thomas Anz
6.13 Psychologie
Dialoge zwischen Literaturwissenschaft und Psychologie
Ein intensiver Dialog zwischen akademisch institutionalisierter Psychologie und Literaturwissenschaft wurde bislang nur in Ansätzen geführt. Kontinuierlich organisiert hat ihn in den vergangenen Jahrzehnten eine Forschergruppe, die Ergebnisse ihrer Aktivitäten seit den 1980er Jahren unter dem Titel Freiburger literaturpsychologische Gespräche (vgl. Cremerius u. a. 1981 ff.) veröffentlicht. Günstige Bedingungen für den Wissensaustausch zwischen den Disziplinen lagen auf der einen Seite da vor, wo Psychologie sich hermeneutischen oder semiotischen Interessen, Verfahrensweisen und Problemen des Sinnverstehens bzw. der Decodierung von Zeichen und dabei vor allem auch der Psychoanalyse gegenüber offen zeigte, und auf der anderen Seite da, wo Literaturwissenschaft sich nicht ausschließlich mit literarischen Texten, sondern auch mit jenen Menschen befasste, die mit diesen Texten oder über sie kommunizieren, also mit Autoren und mit Lesern.
Beide Voraussetzungen waren in der Geschichte der Beziehung zwischen Psychologie und Literaturwissenschaft nur in stark eingeschränktem Ausmaß gegeben. Die sich gegen Ende des 19. Jh.s etablierende und noch heute bestehende Kluft zwischen zwei Wissenschaftskulturen stand dem Dialog zwischen einer an Standards der Naturwissenschaften orientierten Psychologie und der an Standards der Geisteswissenschaften angelehnten Literaturwissenschaft entgegen. Literaturwissenschaftliche Her meneutik zeigte sich darüber hinaus lange Zeit auch gegenüber psychoanalytischer Tiefenhermeneutik in ähnlichem Maße feindlich oder ignorant eingestellt wie die akademische Psychologie. Das ist insofern erstaunlich, als die sich in der Zeit der Aufklärung in Ansätzen herausbildende empirische Psychologie und um 1900 die Psychoanalyse ein ausgeprägtes Interesse an Literatur zeigten. Die Psychoanalyse demonstrierte es sogar in einer »Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften« (Imago) seit 1912 öffentlich. Ähnlich starkes Interesse zeigte umgekehrt die moderne Literatur an der Psycho- analyse (auch an Psychiatrie und Psychologie), seit es sie gab (vgl. Worbs 1988). An dem Dialog zwischen Psychoanalyse und Literatur, der intensiv, wenn auch keineswegs konfliktfrei war (vgl. Anz/ Pfohlmann 2006), nahm die akademische Literaturwissenschaft in der ersten Hälfte des 20. Jh.s jedoch so wenig teil wie die akademische Psychologie.
Trotz solcher Behinderungen der Kommunikation zwischen Psychologie und Literaturwissenschaft verzeichnet eine einschlägige Bibliografie zur Literaturpsychologie 1945–1987 (Pfeiffer 1989) immerhin etwa 2500 Beiträge. Die Zahl dürfte bis zur Jahrtausendwende auf weit über das Doppelte gewachsen sein. Im ersten Jahrzehnt des 21. Jh.s existiert nach wie vor eine zumindest schwach institutionalisierte, vereinzelt von ausgebildeten Psychologen, in der Mehrzahl von psychologisch interessierten Literaturwissenschaftlern betriebene Literaturpsychologie. In ihrem Rahmen hatte die Psychoanalytische Literaturwissenschaft lange eine auffällige Dominanz. Im 21. Jh. hat sie vor allem durch literaturwissenschaftliche Rekurse auf Theorieelemente und Forschungsansätze der Kognitionspsychologie (vgl. II.5.4.3) und der Evolutionären Psychologie (vgl. II.6.14) starke Konkurrenten bekommen. […]
Leseprobe aus dem Handbuch Literaturwissenschaft. Sie können den Handbuch-Artikel nach Anklicken der Zeile „Leserbrief schreiben“ rechts unten auf dieser Seite kommentieren.