II.6.14 Naturwissenschaft

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6.14 Naturwissenschaft

Vorgeschichte

Wilhelm Scherer (1841–1886), der Begründer des sogenannten positivistischen Programms der Literaturwissenschaft, hatte eine Vision, die man auch heute noch bedenken sollte. Literaturwissenschaft sollte die Literatur aus dem Ererbten, Erlebten und Erlernten, d. h. aus den genetischen, den individuell- biografischen und den sozio-kulturellen Faktoren erklären. Der Rahmen wäre also eine dreidimensionale Anthropologie gewesen, die aus dem Zusammenwirken von Verhaltensbiologie, Psychologie und Soziologie hätte entstehen können. Doch diese drei Disziplinen standen als Erfahrungswissenschaften damals noch in den Anfängen. Wissenslücken wurden dann allzu oft wieder durch Ideologeme aufgefüllt.

So konnten die traditionellen, aus Theologie und Philosophie gespeisten Strömungen der Hermeneutik diese Herausforderung erfolgreich abweisen. Dachten sie doch immer schon und nun erneut aus dem ›Ganzen‹ des ›Lebens‹ und konnten so bis in die Gegenwart die Orientierung an den methodischen Idealen der Naturwissenschaften als ›Reduktionismus‹ disqualifizieren. Der Hauptein- wand, der immer wieder erhoben wird, besagt, dass entsprechende Verfahren mit der Geschichtlichkeit des Gegenstandes und dessen Vielfalt und Wandlungen nicht zurechtkommen. Dieser Einwand ist durchaus ernst zu nehmen. Soweit das Wissenschaftsideal aus den Vorgaben der älteren Physik wie z. B. der klassischen Mechanik abgeleitet ist und Regelmäßigkeiten reversibler und repetitiver Vorgänge zu erfassen sucht, kann die Irreversibilität und Nichtrepetitivität der Gegenstandsebene nicht erfasst werden. Und wenn man das Vorbild des Periodensystems der Elemente als Muster der Bildung trennscharfer Begriffe verwirklichen will, dann landet man schnell bei selbsttragenden tautologischen Konstruktionen, die zwar ›saubere‹ Ränder haben, aber dafür keinen geschichtlich-empirischen Kontakt. Vielleicht kann der Aufschwung der Biologie seit den 1980er Jahren hier eine neue Entwicklung einleiten. (Ob und in welchem Umfang die Neurophysiologie eine Aufklärung spezifisch literaturwissenschaftlicher Probleme bringen wird, bleibt vorerst noch abzuwarten; ›heiße‹ Kandidaten sind die ›Spiegelneuronen‹, vgl. Lauer 2007). Die Biologie ist eine ›historische‹ Wissenschaft, und insoweit der Mensch als Naturwesen begriffen wird, ist sie für die Erklärung seiner Verhaltensweisen gewiss zuständiger als die Physik oder die Chemie. Die soziologische Systemtheorie hat sich des biologischen Algorithmus von Variation, Selektion und Restabilisierung bedient, um die Kategorie der Veränderung zu gewinnen (vgl. Luhmann 1985). Zumindest die früheren, historischen Arbeiten Niklas Luhmanns sind in diesem Sinne bereits fruchtbare Vorbilder auch für die Literaturwissenschaft geworden. Ebenfalls begann die Psychologie, in den 1980er Jahren als ›Psychobiologie‹, nun als Evolutionäre Psychologie, die mentale Grundausstattung in Abstimmung mit ihrer evolutionären Entstehung zu konzipieren (vgl. Scherer 1994; Buss 2005). Besonders direkt jedoch greift die neue Strömung der Evolutionären Ästhetik auf den Bereich von Kunst und Literatur zu.

Ein Grundproblem, mit dem alle biologischen Erklärungen von Kunst umgehen müssen, ist das des Nutzens des Nutzlosen. In der Natur haben nur solche Eigenschaften die Chance, evolutionär verfestigt zu werden, die den genetischen Erfolg der Art begünstigten. Unser weitester intuitiver Alltagsbegriff von Kunst jedoch bezieht sich auf Artefakte ohne unmittelbaren Nutzen. Eine scheinbar schnelle Lösung dieses Paradoxes besteht darin, dass man Kunst zu einem ›Nebenprodukt‹ der Evolution erklärt (vgl. Pinker 1998), also quasi zu einem unverdienten Geschenk der Natur. Aber auch dann bleibt die Frage, zu welchem Hauptprodukt sie das Nebenprodukt ist und weshalb uns dieses Nebenprodukt Vergnügen bereitet.

Ästhetik der Soziobiologie: Schönheit als Versprechen von Funktion

Zuerst sei die Lösung vorgestellt, die von der Soziobiologie angeboten wird. Die Soziobiologie hat seit den 1970er Jahren die ›deutsche‹ Vergleichende Verhaltensforschung abgelöst (die wissenschaftsgeschichtlichen und -politischen Gründe dafür wären ein eigenes Thema). Sie richtet ihr Augenmerk vor allem auf die Bedingungen der Kooperation der Lebewesen und auf die Homologien und Analogien von tierischem und menschlichem Verhalten. […]

Leseprobe aus  dem Handbuch Literaturwissenschaft. Sie können den Handbuch-Artikel nach Anklicken der Zeile „Leserbrief schreiben“ rechts unten auf dieser Seite kommentieren.