Zeitanomalie mit einem „Wuusch“

Ein rätselhafter Videoclip, ein zeitreisender Detektiv, eine Autorin vom Mond und eine Anomalie der Zeit: Mit „Das Meer der endlosen Ruhe“ hat Emily St. John Mandels einen Roman über Sterblichkeit, Schönheit und die Natur unserer Realität vorgelegt

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Emily St. John Mandel wurde im Corona-Jahr 2020 berühmt, denn plötzlich galt sie als die Autorin, die „es“ hatte kommen sehen. Sechs Jahre zuvor hatte die Schriftstellerin in Station Eleven (dt. Das Licht der letzten Tage) davon erzählt, wie ein Grippevirus die Zivilisation zerstört und die wenigen Überlebenden Shakespeare inszenieren unter dem Wahlspruch: Überleben allein ist unzureichend. Es lohnt, zum Erscheinen von Mandels neuem Roman noch einmal an ihre berückend schöne, inzwischen von HBO adaptierte Dystopie zu erinnern. Denn in einem herrlich selbstironischen Kapitel von Das Meer der endlosen Ruhe stellt Mandel eine fiktive Autorin ins Zentrum, die, Achtung, kurz vor Ausbruch einer Pandemie einen Pandemieroman veröffentlicht hat.

Das Kapitel spielt im Jahr 2203, und diese Olive Llewellyn ist unterwegs auf der, wie es heißt, „letzten Lesereise auf der Erde“, fern von Ehemann und Tochter, die zuhause auf dem Mond leben. Warum sind postapokalyptische Romane so beliebt, wird die Autorin auf ihrer Tour im 23. Jahrhundert gefragt. Mandels fiktive Stellvertreterin antwortet mit einer Gegenfrage: Wann hätten wir je nicht daran geglaubt, dass es mit der Welt zu Ende geht? Und könnte es daher sein, dass die Vorstellung, man selbst gehöre zu den letzten Menschen, unseren Narzissmus nähre? Zur Ironie dieses Kapitels gehört, dass Olive Llewellyn auf dieser Lesereise an der eben auf der Erde ausbrechenden SARS-12-Epidemie hätte sterben sollen – wäre sie nicht von einem Zeitreisenden in letzter Minute gewarnt worden.

Denn Das Meer der endlosen Ruhe ist ein raffiniert verschachtelter Zeitreiseroman, in dem Emily St. John Mandel einmal mehr ihrer Faszination für Koinzidenzen und alternative Realitäten nachgeht. Dabei kontrastiert der gelassen-melancholische Erzählstil der 44-jährigen Kanadierin eindrucksvoll mit all den Katastrophen, Zeitsprüngen und Plot-Twists, die der Roman bereithält. Das Meer der endlosen Ruhe hat viele Hauptfiguren und einen Ich-Erzähler. Der heißt Gaspery-Jacques, stammt aus dem frühen 25. Jahrhundert und hat den Auftrag, das Geheimnis einer Anomalie zu lüften, die die Forscher eines mysteriösen „Zeitinstituts“ beunruhigt. Ist diese Störung der Zeitlinie der Beweis dafür, dass unsere Realität nur eine Simulation ist?

Bei der Anomalie handelt es sich um die verstörende Erfahrung, an zwei Orten gleichzeitig zu sein, mit trauriger Geigenmusik im Hintergrund und einem mysteriösen „Wuusch“, als würde etwas Großes in die Luft steigen. Dieses Erlebnis teilen die in verschiedenen Jahrhunderten lebenden Figuren des Romans: Wie Edwin, der verstoßene englische Aristokratensohn, dem dieses Erlebnis 1912 in den kanadischen Wäldern widerfährt (und der keine Ahnung hat, was ihm noch in den Schützengräben Frankreichs bevorsteht). Vincent – die Hauptfigur aus Mandels Roman Das Glashotel (2020) –, die dasselbe Erlebnis als Jugendliche bei einem Spaziergang mit ihrer Videokamera filmt. Und natürlich die Schriftstellerin aus der Zukunft bei einem Besuch eines Raumbahnhofs in Oklahoma City. Dass Olive Llewellyn nach ihrer Rückkehr mit ihrer Familie monatelang im lunaren Lockdown verbringen muss, ist wohl ein augenzwinkernder Hinweis darauf, wie wenig Vertrauen die reale Autorin Mandel in den wissenschaftlichen Fortschritt hat.

Auch für die technischen Aspekte ihrer Geschichte interessiert sie sich kaum. Es gibt Holo-Gespräche, ein paar eifrige Farmroboter und Reisen zu „Fernen Kolonien“ in benachbarten Sternensystemen. Doch Mandels Zukunftsroman steht den Werken von Margret Atwood oder Kazuo Ishiguro ungleich näher als genreüblichen SciFi-Abenteuern. Und ventiliert Themen wie Sterblichkeit, freier Wille oder die Suche nach Schönheit und Bedeutung in einer Welt, die fortwährend am Untergehen ist. Dennoch kommen einem die erzählten Folgen von Zeitreise-Paradoxien oder der Kampf des Zeitinstituts um die Integrität der Zeitlinie allzu bekannt vor, sei es aus der Zurück in die Zukunft-Filmtrilogie oder diversen StarTrek-Folgen. Vermutlich liegt es daran, dass Das Meer der endlosen Ruhe zwar einen ungemein packenden und anregenden Lektürestoff bietet, aber gegenüber Mandels Vorgängerwerken am Ende doch etwas abfällt

Titelbild

Emily St. John Mandel: Das Meer der endlosen Ruhe.
Aus dem Englischen von Bernhard Robben.
Ullstein Verlag, Berlin 2023.
279 Seiten, 22,99 EUR.
ISBN-13: 9783550202155

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