Klarheit der Sätze fürs Wirrwarr des Lebens

"Berichterstatter des Tages": zum Briefwechsel zwischen Peter Handke und Hermann Lenz

Von Christian LuckscheiterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Luckscheiter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Ich lese in der historisch-kritischen Ausgabe von Mörikes Briefen. Im Anhang ist jede Kinderleiche, die Mörike erwähnt, weil er sie einsegnen musste, mit genauen Daten nachgewiesen. Jeder Name wird mit Geburts- und Todesjahr und mit allen Lebens-Stationen aufgeführt. Dabei sind nur Briefe aus 2 1/2 Jahren abgedruckt, und der Wälzer ist 757 Seiten dick, meisterhaft auf 'Ewigkeits'-Papier gedruckt und ohne Druckfehler. Das hätte sich das Eduardle nicht träumen lassen."

Auch Hermann Lenz, der hier schreibt, hätte sich wohl, zumindest bis zum 'Herbst seines Lebens', nicht träumen lassen, dass einmal der Briefwechsel zwischen ihm und Peter Handke meisterhaft auf 459 Seiten 'Ewigkeits'-Papier gedruckt und ohne Druckfehler erscheinen würde (Gott sei Dank als "Leseausgabe" und nicht historisch-kritisch). Dieses Buch mag zur rechten Zeit kommen, ist es doch kaum geeignet, die um Handke geschlagenen hysterischen Medienschlachten der letzten Zeit weiterzuführen oder neu zu entfachen.

Aber, nun ja, wer weiß? - "in der Literaturkritik ist alles erlaubt, und alles (also auch das Verdrehteste) kann behauptet werden", schimpft Lenz angesichts einer Handke-Rezension von Reich-Ranicki.

Was könnte über diesen Briefwechsel behauptet werden? Dass es ein formschönes Buch ist, auf jeden Fall. Insel lässt sich mal wieder nicht lumpen. Und die Herausgeberin und die Herausgeber haben dem Briefwechsel noch so manches beigefügt: Wunderbare Abbildungen, einen hervorragenden, aufwendigen Anmerkungsapparat - trotz Leseausgabe über 100 Seiten (vereinzelt vielleicht ein wenig pedantisch, aber ohne Kinderleiche) - und, außer dem Nachwort, einen Essay von Peter Hamm. Auch der Text, der diesen Briefwechsel mit beginnen ließ und - eine nach wie vor gänzlich unwahrscheinliche Geschichte, beinahe ein 'Märchen aus der neuen Zeit' - aus dem "introvertierten Dachstubenhocker" Hermann Lenz einen, sapperlot!, "Alleinunterhalter" der "Kultur- und Prominenzsüchtigen" des Literatur- und Kulturbetriebs machte, wurde mit aufgenommen: Handkes 1973 in der "Süddeutschen Zeitung" abgedruckte berühmte Einladung, Hermann Lenz zu lesen, ebenso Hermann Lenz' Text "Schreiben geht manchmal leichter als reden" und Handkes Grabrede auf Lenz.

So wird dem Leser und der Leserin ein umfassender Einblick gewährt in die "Mäanderschwingungen" zwischen zwei "seltsamen Delphinen" (Handke), die sich im Wirrwarr des Lebens "Trost" (so Hamm) spenden, die sich eine Art "Orientierung und Korrektur" sind, wie es einmal heißt, vor allem für das Schreiben, für das einzelne Wort. Jeder der beiden war für den anderen immer auch Zuflucht, entweder ganz wirklich, wenn Handke sich "recht allein und schwach" fühlt und im Januar 1979 Unterschlupf bei den Lenzens findet, oder wenn Lenz schreibt: "Dann kam Dein Brief, und ich atmete auf. Wenn's dem Peter gefällt, dann ist alles in Ordnung."

Handke und Lenz teilen die Hoffnung, verstanden zu werden, nehmen Anteil am Schmerz des anderen über Missverständnisse, Verrisse. So manches Mal sind sie beinahe rührend umeinander besorgt, etwa wenn Handke bedauert, den Fensterladen nicht zugemacht zu haben, als Lenz, auf der Couch sitzend, die Sonne ins Gesicht schien. "Wir verstehen einander, und ich meine, es sei das Seltenste, das sich ereignet", schreibt Lenz. Obwohl (?) zwischen ihnen 30 Jahre liegen. Obwohl (?) es Lenz vor Ortsveränderung graut ("die Zeit in Russland war halt so lang") und Handke von immer neuen Orten Karten schickt, als ein ganz anderer Fernseher (den bekannten nennt Lenz "Glotzophon"). -

Nebenbei eine verständnislose Frage an die Herausgeber: Warum, "sapperlot!", wurden die auf der Rückseite der Postkarten aufgedruckten Motivbeschreibungen oder die Aufdrucke auf dem Briefpapier in die "Leseausgabe" vollständig mit aufgenommen (Beispiel: "Ansichtskarte: '3074 Monfalcone (GO) La Rocca La Fortresse The Fortress Die Burg"; "Auf dem Briefumschlag: K + K, Palais Hotel, Wien, Rudolfsplatz 11, A-1010 Wien, Telefon 0222/5331353")?? Abstrus. Soll ich Sprachen lernen? Soll ich da anrufen? Gilt das als für die Forschung höchst relevanter Paraperitext? -

Was ließe sich sonst noch behaupten? Einen Briefwechsel kann man ja gar nicht rezensieren! Ein Urteil, eine Bewertung steht hier niemandem außer Lenz und Handke zu. Zumal, so Hamm, "nirgends in diesen Briefen auch Geistreicheleien, intellektuelle Wichtigtuereien oder Spitzfindigkeiten, nirgends Politik oder gar 'Literaturpolitik'" ausgetauscht werden. Das kann einen zwar einerseits arg freuen; und Volker Weidermann ist nur zuzustimmen, wenn er in der "FAZ" schreibt: "Es ist ein schönes Buch aus den innersten Schichten einer leuchtenden Innenwelt." Aber, andererseits, wenn kaum eine über den ganz persönlichen Ton hinausgehende ästhetische oder sonstige Erörterung stattfindet, die zumindest literaturtheoretisch interessant oder für die Lektüre des Werks der beiden Autoren fruchtbar sein könnte, warum wurde der Briefwechsel dann veröffentlicht? Was gehen solche Briefe die Öffentlichkeit an? Sie waren doch von Hermann Lenz nur für Peter Handke und von Peter Handke nur für Hermann Lenz geschrieben? Wie soll man diese Briefe lesen, ohne zum Späher zu werden, zumal der eine der beiden Briefeschreiber und -empfänger ja noch (und hoffentlich noch lange) lebt? Muss man von Hermann Lenz' Unsicherheiten erfahren, von seiner ständigen, sei's ironischen, sei's unironischen Angst, lästig zu fallen, zu viel und zu viel Dummes zu schwätzen, etwas nicht verdient zu haben, zu stören, alles falsch gemacht zu haben? "Auf dass Dir's weit'nei graust" (Lenz).

Möchte man weder geilen Boulevard noch schwärmerischen Kult noch dumpfbackenen Biografismus, der ja selbst in fiktionalen Texten immer nur den Autoren findet, bedienen, so bleibt hier eine Bitte Handkes zu erwähnen: "Manchmal habe ich mir gewünscht, dass die einzelnen Geschehnisse, von denen Du erzählst, noch so weiter gehen, mit möglichst viel Nichts", "ich habe mir gewünscht, von Dir eine lange, lange Folge von Weltenlandschaftsbildern zu lesen, in der keine Extra-Story mehr eine Psychologie dazu setzt."

Dieser Wunsch und die daraufhin von Lenz formulierte Sorge, dass Naturbeschreibungen beispielsweise ohne Liebesgeschichte panoramahaft und die Figuren ohne Psychologie zu Attrappen zu geraten drohten, skizzieren eine Poetik, die beide Schriftsteller verbindet und deren Möglichkeiten sie auf einmalige Weise ausprobiert haben und ausprobieren - man denke nur an das Kapitel IV aus "Mein Jahr in der Niemandsbucht": Dieses ästhetische Programm der 'erzählenden Stillstände', einer modernen Epik, seine Schwierigkeiten und Erscheinungsformen gilt es weiterzuverfolgen und insbesondere in der Forschung verstärkt zu thematisieren.


Titelbild

Helmut Böttiger / Charlotte Brombach / Ulrich Rüdenauer (Hg.): Peter Handke/Hermann Lenz Briefwechsel Berichterstatter des Tages.
Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2006.
459 Seiten, 24,80 EUR.
ISBN-10: 3458173358

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