Der Unterbau der Sittlichkeit

Eduard von Hartmanns "Gefühlsmoral" neu herausgegeben

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was ist davon zu halten, wenn ein Philosoph, der nicht abgeneigt war, zu einigermaßen zwielichtigen Methoden zu greifen, um sein Hauptwerk "Die Philosophie des Unbewussten" im Gespräch zu halten (etwa indem er selbst eine Kritik an dem Buch verfasste und sie anonym unter dem Titel "Das Unbewusste in der Physiologie und Descendenztheorie" publizierte) - was ist also davon zu halten, wenn ein solcher Mann eine Ethik verfasst? Nun, man könnte sich etwa an eine von Max Scheler - dem Begründer der phänomenologischen Wertethik - überlieferte Anekdote erinnert fühlen, der auf die Vorhaltung, seine Lebensführung entspreche so gar nicht seiner Philosophie, mit der Frage reagierte: "Haben Sie schon einmal einen Wegweiser den Weg gehen sehen, den er weist?" Oder man könnte einfach darauf verweisen, dass der Wahrheits- und Geltungsanspruch eines philosophischen Textes an diesem selbst erörtert und bewertet werden muss, ohne Ansehen des Verfassers.

Das soll auch für die "Phänomenologie des Sittlichen Bewußtseins" Eduard von Hartmanns gelten, die mithin eben jenem Philosophen aus der Feder floss, von dem zu Beginn die Rede war. Jean-Claude Wolf hat mit der "Gefühlsmoral" nun einen Abschnitt aus dem umfänglichen, 1879 erschienen und seit den 1920er Jahren vergriffenen Werk neu herausgegeben.

Der Abschnitt über die Gefühlsmoral hat in Eduard von Hartmanns systematisch angelegtem Werk seinen Platz als zweites Moment im ersten Schenkel einer dreifachen Trias, deren Gesamtheit von einem vierten überwölbt oder - genauer gesagt - aufgehoben wird. Zunächst gliedert Hartmann die Ethik in die "Triebfedern" (oder "subjektiven Moralprinzipien") der Sittlichkeit, ihre "Ziele" (die "objektiven Moralprinzipien") und ihren dreifachen "Urgrund" (die "absoluten Moralprinzipien"). Triebfedern sind die "Geschmacksmoral", die im vorliegenden Buch erneut publizierte "Gefühlsmoral" und die "Vernunftmoral". Ihre "Ziele" werden durch das "sozial-eudämonistische Moralprinzip", das "evolutionistische Moralprinzip" und das "Moralprinzip der sittlichen Weltordnung" bestimmt. Das "monistische Moralprinzip", das "religiöse Moralprinzip" und das "Moralprinzip der absoluten Teleologie" bilden schließlich gemeinsam den "Urgrund der Sittlichkeit". Mit ihm würde Hartmanns Moralphilosophie ihren systematischen Abschluss finden, wäre da nicht noch ein kleines, allerletztes Kapitelchen, in dem der Autor dargelegt, dass alle Moral durch das "Moralprinzip der Erlösung" aufgehoben werde: "Das reale Dasein ist die Incarnation der Gottheit, der Weltprocess die Passionsgeschichte des fleischgewordenen Gottes, und zugleich der Weg der Erlösung des im Fleische Gekreuzigten; die Sittlichkeit aber ist die Mitarbeit an der Abkürzung dieses Leidens- und Erlösungsweges."

Wolf hat dem von ihm herausgegebenen Auszug eine Einleitung vorangestellt, in der er Hartmann davor schützen möchte, "als Nachfolger Schopenhauers wahrgenommen - und missverstanden" zu werden. Denn Hartmann habe hinsichtlich des "Kulturfortschritts" eine durchaus optimistische Haltung gepflegt. Pessimist sei er hingegen "nur bezüglich der seiner Ansicht nach unbegründeten Hoffnung, mit dem Kulturfortschritt würden auch das Glück bzw. die Handlungsspielräume des Individuums gefördert", gewesen. Nun könnte man mit einem ähnlichen Argument allerdings auch bestreiten, dass Mainländer Schopenhauer-Schüler und Pessimist gewesen sei. Schließlich war dieser der Auffassung, dass sich die menschliche Gesellschaft irgendwann sogar zum Kommunismus hocharbeite. Doch werde das Leben im "idealen Staat" nur dazu führen, die Menschen "reif für die Erlösung" zu machen. Denn sie müssten erst "satt" sein "von allen Genüssen, welche die Welt bieten kann", um den Weg ins Nichts beschreiten zu wollen, meint Mainländer.

Zwar teilte der vermeintliche Optimist Hartmann weder das kommunistische Ideal des philosophierenden Suizidanten Mainländer, noch wählte er dessen Art zu sterben. Doch wenn Hartmann - wie Wolf betont - der Auffassung war, die Kultur sei "ein Moloch, der große Anteile von Glück und individueller Freiheit geopfert werde", so fragt man sich, was an dem ganzen kulturellen Fortschrift denn so positiv sein soll, und worin Hartmanns Optimismus lag.

Zwar geißelt Wolf in der Einleitung zu Hartmanns Text die "sexistischen, rassistischen, sozialdarwinistischen und bellizistischen Phantastereien" des Buchs und richtet sein besonderes Augenmerk auf dessen Frauenfeindlichkeit (die Hartmann im übrigen auch dazu trieb, ins tagespolitische Emanzipationsgeschäft einzugreifen, etwa indem er 1886 in seinem Sammelband "Moderne Probleme" seine ablehnende Haltung gegenüber der "Gleichstellung der Geschlechter" kundtat). Doch unabhängig davon habe das Buch des in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wohl meistgelesene Philosophen "breite Anerkennung" verdient und sei heute zu Unrecht vergessen.

Um das beurteilen zu können, muss man sich dem Text selbst zuwenden. Die in Hartmanns Systematik zwischen "Geschmacksmoral" und "Vernunftmoral" angesiedelte "Gefühlsmoral" fasst das Gefühl als "Bindeglied zwischen Vorstellung und Wille", "Unterbau" der Sittlichkeit und als "die letzte dem Bewußtsein direkt erreichbare Tiefe der Seele". Solle die Sittlichkeit auf ihrem "tiefsten psychischen Grunde" ruhen, so müsse das Gefühl als eine ihrer "Quellen" nachgewiesen werden. Dabei gilt nicht etwa ein bestimmtes, von allen anderen Gefühlen unterschiedenes Gefühl als moralisches. Vielmehr ent- oder widerspricht jedes Gefühl seiner "Tendenz" nach einer "mehr oder minder sittlichen Aufgabe". Alle Gefühle können unter bestimmten Bedingungen sittlich oder unsittlich wirken. Somit ist das moralische Gefühl kein "einheitliches Vermögen", sondern eine "Summe spezifischer Gefühle von höherem oder geringerem sittlichen Einfluß und Wert".

Dabei bildet die "Gefühlsmoral" den "stärkste[n] Hebel" im "Kampf gegen das Böse". Auch kann nur sie zu heroischen Taten motivieren. Weder die "harmonische oberflächliche Abgerundetheit der Geschmacksmoral" noch die "zur Pedanterie neigende abstrakte Vernunftmoral" seien hierzu imstande.

Besonders ausführlich setzt sich Hartmann mit Schopenhauers Mitleidsethik auseinander, die er zwar als Reaktion auf Kants "einseitig rationalistische" Moral schätzt und der er insofern eine "gewisse historische Berechtigung" bescheinigt. Dennoch sei sie über ihr Ziel hinausschossen. Vor allem aber könne das Mitleid entgegen Schopenhauers Auffassung keineswegs als Grundlage der Moral die "Quelle von Pietät, Treue und Liebe" bilden, sondern sei nur eine "Pflanze", die erst "auf dem Boden dieser tieferen Grundlagen der Gefühlsmoral" gedeihe und Früchte trage.

Steht im Zentrum von Schopenhauers Ethik das Gefühl des Mitleids, so dominiert in derjenigen Hartmanns das der Liebe. Diese bilde die "psychologische Grundlage" der "feineren Tugenden". Indem der Liebende den Geliebten "in das eigene Selbst mit einschlisset", sei ihm an dessen Wohl ebenso viel gelegen wie an seinem eigenen. Werde eine solche Liebe allgemein, so finde sie in "Freundschaft, Geschlechtsliebe und Mutterliebe" ihre "höchste Verwirklichung".

Allerdings bedürfe das "Moralprinzip der Liebe" einer Ergänzung durch ein Moralprinzip der Pflicht, das Hartmann als "Pflichtgefühl" bezeichnet und welches "das Gefühl der formellen Verbindlichkeit des Moralgesetzes" meint. Auf dessen Notwendigkeit hinzuweisen, sei das letzte, wozu die "Gefühlsmoral" imstande sei. Unmöglich sei es ihr jedoch, ihren Inhalt zu bestimmen und seine Verbindlichkeit zu begründen.

Mit diesem cliffhanger, einem zur Vernunftmoral überleitenden spezifischen Unvermögen der Gefühlsmoral, endet der von Wolf vorgestellte Auszug aus Hartmanns "Phänomenologie des ethischen Bewusstseins" und lässt somit auch die Frage offen, ob sich die Lektüre des gesamten Werkes heute noch lohnt. Viel spricht allerdings nicht dafür.


Titelbild

Eduard von Hartmann: Die Gefühlsmoral.
Mit einer Einleitung herausgegeben von Jean C. Wolf.
Felix Meiner Verlag, Hamburg 2006.
216 Seiten, 18,80 EUR.
ISBN-10: 3787318178

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