Flatterige Töchter und frustrierte Ehefrauen

Herman Bangs Roman "Am Weg" strahlt weiter

Von Rolf-Bernhard EssigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf-Bernhard Essig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die eigentliche Kunst besteht nicht darin, etwas Neues zu erzählen, wusste Schopenhauer. Viel anspruchsvoller und wahrhaft künstlerisch ist es, etwas Allbekanntes so zu erzählen, dass sich vor den Lesern ein unbekanntes Land auftut.

So wie Hermann Bang (1857-1912) es tut, von dem Thomas Mann sagte, er habe von ihm" alles gelesen und viel gelernt", er sei ihm "tief verwandt". Und damit übertrieb der notorische Lobredner nicht, denn in puncto Komik, Figurenzeichnung und in der tiefen Sympathie mit den Leidenden, den Todessüchtigen war er geradezu ein Eleve Bangs, aus dessen Werken er sich mehrfach Stoff borgte.

Wiewohl der geniale Däne auch in dem wunderbar konzentrierten Ehe-Roman "Am Weg" die Zeitgenossenschaft nicht verbirgt, erhebt sich Bang doch weit über viele Kollegen des Naturalismus und Symbolismus, des Fin de siècle und des Jugendstils.

Die Themen, ja manche Figuren des Romans kennt man, zumal sie hin und wieder karikierend geschildert werden: die altjüngferliche Lehrerin Jensen, die außer der zu ihrem Mops keine Liebe mehr kennt, der etwas ungestüme, an sich gutmütige Exoffizier und jetzige Bahnbeamte mit anfallsartigen Herrenreiterallüren, seine zarte, attraktive, doch stille Ehefrau, nicht unglücklich, aber alles andere als glücklich, der nach zehn Jahren Ehe verhängnisvoll die Liebe begegnet. Die Enge und Provinzialität eines kleinen Ortes an der Bahnstrecke, die Spießbürgerlichkeit mit ihrer Doppelmoral, überhaupt die nicht vorgesehene Autonomie der Frau in ihrem Konventionskerker, das tragische Ende der Hauptfigur in der Schwindsucht.

Dennoch spricht Bang uns sofort an, so unmittelbar, so evident, als verhandle er unsere eigene Sache. Und das tut er ja schließlich auch, denn es zeichnet zeitlose Literatur stets aus, dass sie nicht das allgemein Menschliche behandelt, sondern das speziell Menschliche in Kunst überführt.

Das Schicksal der Katinka Bais, so sehr es bewegt, ist, überspitzt formuliert, fast Beiwerk. Die Figuren, so plastisch sie dem Leser entgegen treten, sind beinahe Staffage gegenüber dem Stil und der Kompositionskunst Herman Bangs, die das Buch leuchten lassen. Nicht umsonst verglich man ihn schon seinerzeit mit den Impressionisten, deren flirrenden Pointilismus man in seinen Textbildern wiedererkannte.

Bangs lebendige Modernität beruht aber auf der souveränen Verbindung sehr verschiedener Kunstformen. Der Bühne, die er als gefeierter Schauspieler, Autor und Vortragskünstler bestens kennt, ist der Beginn des Romans "Am Weg" ganz nah, treten doch die Hauptpersonen eine nach der anderen wie in einer knappen Dramen-Exposition auf den Bahnsteig des kleinen Ortes, wo sich das Schicksal von Katinka Bai erfüllen wird. Und dann sind da die vielen hoch aufgeladenen, meist lakonischen Dialoge, die jedem Bühnenstück Ehre machten. Bang setzt aber auch, obwohl es den Film im Entstehungsjahr des Buches 1886 noch nicht gibt, filmische Mittel ein, die an einen Lubitsch oder Altman erinnern. Da gibt es die Löcher im Erzählkontinuum: Stolperfallen manche, manche Abgründe. Am faszinierendsten ist Bangs beinah tänzerisch leichter Perspektivwechsel: Gerade begleitet der Leser die Witwe Abel mit ihren heiratsgierigen, "flatterigen" Töchtern auf dem Heimweg, da trägt ihn der nächste Satz an die Seite des Pfarrfräuleins Agnes, deren Frechheit und körperliche Präsenz ihre Sehnsucht verbirgt, und wieder einige Sätze später sitzt man mit der Hauptfigur Katinka Bai versonnen da und schaut auf die stille, dänische Landschaft. Das wirkt nie aufgesetzt oder bloß artistisch, sondern bezwingend, ähnlich wie bei den Zeitsprüngen oder dem so eleganten wie irritierenden häufigen Wechsel zwischen Imperfekt und Präsens.

Da sich Bang ausführliche Psychologisierungen oft spart, den Seelenzustand seiner Figuren lieber in ihren Gedanken, Handlungen oder knappen Worten lesbar macht, erhöht sich die Intensität seiner Szenen noch. Ob ein Zug ankommt oder der Jahrmarkt besucht wird, ob eine Einladung der Pfarrersleute fast ins Tollen abgleitet oder eine Frau der anderen nimmermüd ihr Liebesleid klagt - alles hat so viel Farbe, Atmosphäre und Unmittelbarkeit, steht so deutlich vor Augen, dass man wiederum an Höhepunkte der Filmkunst wie John Houstons "The Dead" nach James Joyce denken muss.

Ähnlich wie Houston gelingt es Bang, die bürgerliche Sphäre genau, drastisch und oft lustig zu erfassen, ohne doch die einzelnen Personen oder die natürlich beschränkte Dorfgemeinschaft einfach dem Spott auszuliefern. Eine tiefe Melancholie bildet noch im Fall karikaturistischer Schärfe den dunklen Untergrund, eine gewisse Sympathie ist spürbar mit diesen unfreien Menschen, die nicht aus Bösartigkeit böse sind oder verletzen. Fast alles liegt in einer einfachen Grundwahrheit begründet, die Katinka Bai am Grab ihrer Eltern in einer Klarheit aufgeht, die wir auch hundert Jahre später nur ungern zulassen: "Wie wenig sie ihre Eltern doch gekannt hatte. Ja, wie wenig sie einander kannten - alle Menschen, die dahinlebten und nebeneinander hergingen".

Aus dem klugen Nachwort Aldo Keels kann man viel über das Schicksal des ewigen Außenseiters und immerfort reisenden Herman Bang erfahren, der sich für die "Stillen Existenzen" (ein weiteres Buch von ihm) einsetzte, der als kämpferischer Feuilletonist und Autor zwar international gefeiert und doch immer wieder vertrieben wurde, weil ihn seine Homosexualität und seine Antibürgerlichkeit zum Ärgernis machten. Keel erklärt auch, woher der Titel stammt: aus der Bibel, die beschreibt, dass Rahel, Jaakobs Lieblingsfrau, "am Weg" begraben wurde. Auch ihr Mann trauert um "die schöne Frau" Katinka Bai, obwohl er sie nie verstanden hat, obwohl er sie - unzufrieden über zu wenig Sex - betrogen und geklagt hat: "Das ist die Ehe". Er tröstet sich nach ein paar Monaten mit der übriggebliebenen Tochter der Witwe Abel. Für die Frauen gilt damals jedoch, was Pastorentochter Agnes illusionslos formuliert: "Die ersten fünfundzwanzig Jahre unseres Daseins tanzen wir herum und warten darauf, verheiratet zu werden; - und die zweiten fünfundzwanzig Jahre versitzen wir und warten darauf, beerdigt zu werden."

Die frühere Übersetzung in der schönen alten "Bibliothek zeitgenössischer Romane" von S. Fischer, in der Bang gleich mit vier Bänden vertreten war, ist schön. Wesentlich schöner und poetisch treuer - besonders in den vielen eingestreuten Liedern - ist die neue von Ingeborg und Aldo Keel.


Titelbild

Herman Bang: Am Weg.
Mit einem Nachwort von Aldo Keel.
Übersetzt aus dem Dänischen von Ingeborg Keel.
Manesse Verlag, Zürich 2006.
288 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3717521160

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