Hellsichtig, scharfsinnig und menschenfreundlich

Burkhard Spinnens Feuilletons

Von Rolf-Bernhard EssigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf-Bernhard Essig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kluge Köpfe konstatierten schon im 18. Jahrhundert kategorisch: "Kritik ist nötig". Die Klügeren unter den Aufklärern begnügten sich freilich damit nicht, denn die reine Kritik ist von lästiger Meckerei nicht allzu weit entfernt. Sie tendiert zur Rechthaberei, verdirbt die Laune und fördert den Fortschritt nur mäßig. Gerade für Denker wie Lichtenberg oder Lessing stand deshalb außer Frage: Die Ironie, die Selbsterkenntnis sowie ein gerüttelt Maß an Menschenfreundlichkeit sind als Korrektive bloßer Vernunft sehr hilfreich. Wie leicht ist es schließlich, mit Kenner-, ja Richtermiene alles Fehlbare um sich herum zu verachten und zu verurteilen. Wieviel schwerer, in alle dem die eigene Fehlbarkeit zu erkennen und darüber hinaus noch zu bemerken, dass oft gerade das Belächelte oder Verabscheute überraschenden Sinn birgt, Trost bietet und Wahrheit offenbart.

Gegen die "Deutsche Bahn AG" ist wohlfeil schimpfen, über euphemistische Phrasen in Todesanzeigen wie "plötzlich und unerwartet" kann man sich leicht erheben und schwungvoll über die Naiven und Opportunisten das Horn seines Spotts ausschütten, weil sie dem Irak-Krieg gegenüber im Wochentakt ihre Meinung ändern. Burkhard Spinnen jedoch tritt, wenn er auch anfänglich schäumt "im Vollbesitz meiner kritischen Kräfte", lieber neben sich, schaut sich selber zu, besieht dann auch das provozierende Ding genauer, und siehe, gar nicht so selten ist alles ganz anders, und der Kritiker selbst erkennt sich im Kritisierten wieder.

In vielen seiner 68 Texte, die mit allem Recht den alten Namen "Feuilletons" tragen könnten, ähnelt sich dieses Schema der Erkenntnis: Da stimmt Spinnen ein in den Kanon der allgemeinen Kritik an der Bahn, um dann doch lieber zu staunen, warum gerade sie so gehasst wird. Er beginnt zu zweifeln, dreht und wendet die Argumente, um schließlich zu dem überraschenden Schluss zu kommen, dass seit der Abschaffung der Dampflokomotiven und dem Baubeginn der Reichsautobahnen die Zukunft in anderen Verkehrsmitteln gesucht wird. Aber: "Die Bahn erinnert daran, dass mit einem Plus an Gemeinsinn ein Minus an Stau und Verschwendung und Tod möglich gewesen wäre. Und genau deshalb schimpfen alle auf die Bahn...".

Sich selbst dient Spinnen häufig als spezielles Erkenntnisinstrument. Rituale wie das Rasieren oder das samstägliche Fußball-Gucken, Hobbies wie das Basteln, Erlebnisse bei Lesungen oder Ferien am Meer, fast alles in seinem Leben kann in ihm Ideen wecken, die auf humane Weise zum Selberdenken ermutigen und Trost anbieten; selbst Kapitalismuskritik oder Werbungsverlogenheiten: "denn was wären wir ohne das bißchen Produktfolklore, die uns den Alltag so heimelig macht!"

Seine beinahe umständlich wirkenden Langsätze bilden ideal den doch gar nicht simplen Weg zur Wahrheit ab. Die eingestreuten altväterlichen Formulierungen und die Fähigkeit, sich selbst auf die Schippe zu nehmen, bekräftigen seine Haltung, die mit Ironie zu wenig genau bezeichnet wäre. Denn Spinnen entwertet weder die Kritik noch das Kritisierte, vielmehr legt er unmissverständlich offen, dass er Werte vertritt, zu denen - in vernünftiger Weise gebraucht - die "Sekundärtugenden" wie Fleiß oder Verantwortung gehören, vor allem aber auch die Freiheit, wie sie beispielsweise im Fußball zu Tage tritt: "Fußball ist eine Feier der Erkenntnis, dass nur die Gemeinschaft etwas haben und verteidigen kann. Indem sie es weitergibt! Fußball feiert den Umstand, dass Besitz und Bewegung zusammengehören."

Sentimentalität und Nostalgie findet sich in manchen Aufsätzen, rührende Gefühlsgeständnisse in anderen, Anekdotisches mit Aha-Effekten, Spielerisches und immer wieder Überraschendes, wenn man gerade meint, dem Autor zustimmen zu müssen. Auf diese Weise muss man auch den Titel des Buches lesen, dessen Worte "Kram und Würde" einander nicht so sehr relativieren oder aufheben, vielmehr bereichern und schillern lassen.


Titelbild

Burkhard Spinnen: Kram und Würde. Lesebändchen.
Schöffling Verlag, Frankfurt a. M. 2006.
240 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3895610410

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