Im Reich der Fabelwesen

Viktor Pelewins "Heiliges Buch der Werwölfe" ist ein wahres Bestiarium

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Gottes Tierreich ist groß", pflegte eine Bekannte beim Anblick besonders wunderlicher Zeitgenossen zu kommentieren. Meistens meinte sie ihren aktuellen Chef. Viktor Pelewin würde ihr wohl zustimmen mögen, wenn auch auf seine eigene Weise. Sein neuer Roman "Das heilige Buch der Werwölfe" erzählt von Mischwesen, die mitten unter uns leben, ohne dass wir uns ihrer wirklichen Identität gewahr sind. Die Grenzen verlaufen fließend, und man kann sich nicht immer sicher sein, von welcher Gattung man gerade ein Exemplar vor sich hat: von den Menschen, den Wölfen oder eben den Werwölfen.

Überhaupt scheint sich der 1962 geborene Viktor Pelewin neuerdings wieder den Fabelwesen zuzuwenden. Wir kennen dies bereits aus seinem früheren Roman "Das Leben der Insekten" (1998). Und nach den Werwölfen lässt er in seinem in Russland gerade eben erschienenen allerneuesten Roman Vampire in Moskau auftauchen: Auf die Übersetzung von "Ampir V / Empire V" darf man gespannt sein.

Doch nun zur Geschichte. A Huli ist eine bald 2000 Jahre alte Werfüchsin, die ihr Leben erzählt. Ihr Alter gibt man ihr nicht, im Gegenteil: Für ihren Beruf - sie ist Prostituierte - sieht sie eigentlich fast zu jung aus. Doch das ist Kalkül. Ihr Metier übt sie nicht in erster Linie aus finanziellen Gründen aus, sondern weil Werwölfe und Werfüchse beim Sex Energie auftanken, wobei sie die Reserven des Partners anzapfen. Der Verkehr läuft allerdings nur in der Phantasie des Kunden ab. Es kommt zu keinem richtigen physischen Kontakt, denn Werwesen verfügen über die Fähigkeit zur Hypnose: Seelenruhig sitzen sie neben dem Bett, während der Kunde mit sich alleine zugange ist. Doch das merkt dieser gar nicht. A Huli betreibt also bloß intellektuelle Prostitution. Auch Werwesen unterscheiden zwar im Prinzip zwischen Arbeit und Privatleben. Doch dann verliebt sich A Huli zum ersten Mal richtig, nämlich in Alexander Seryj, einen Werwolf, der in seinem menschlichen Leben Offizier des russischen Geheimdienstes ist.

Pelewin wäre nicht er selbst, wenn ihm die Rahmengeschichte nicht auch Anlass böte für einen ganzen Reigen von Themen, die er nebenbei aufwirft. Die Figuren führen lange Dialoge über Russlands Schicksal und Bestimmung. Östliche Mystik und Philosophie durchdringen das Leben der Werwesen, ihre Bildung und Überzeugungen. Gleichzeitig nimmt Pelewin auch Verhaltensweisen seiner Zeitgenossen sowie Erscheinungen des heutigen Russlands auf die Schippe. Die Welt der Portfoliomanager und das Milieu des Geheimdienstes, einiges an Tagesaktualität (Yukos), der Neoliberalismus russischer Spielart sowie nationale Stereotypen: Dies sind die weiteren Ingredienzien des Romans. Dabei ist einmal mehr viel Ironie und Witz mit im Spiel. Nicht alles ist politisch ganz korrekt, was allerdings nicht der Unachtsamkeit Pelewins zuzuschreiben, sondern durchaus seine Absicht ist. Der Autor legt es geradezu darauf an. Etwa als er Alexander darüber räsonieren lässt, warum denn früher auf den Generalstabskarten der Sowjetarmee die Pfeile immer entweder rot oder blau waren: "So als bestünde der Grundwiderspruch der Geschichte im Kampf zwischen Schwulen und Kommunisten". ("Blau" bedeutet im Russischen auch "homosexuell").

Pelewins Romane sind stets auch ein Spiel mit den (literarischen) Traditionen. Dass hier eine Prostituierte ihr Leben erzählt, erinnert einen schon bald an Viktor Jerofejews Perestrojka-Roman "Die Moskauer Schönheit" (1990), die intimen Bekenntnisse einer Hure und Femme fatale. (Mit A Huli hat Pelewin übrigens zum ersten Mal eine weibliche Gestalt zur Hauptfigur eines Romans gemacht). Wenn in Russland plötzlich geheimnisvolle Gestalten mit übernatürlichen Kräften ihr Unwesen treiben, so ist überdies wohl auch Michail Bulgakow nicht fern. Dessen Roman "Der Meister und Margarita" (1940) hält Pelewin für eines der wichtigsten russischen Bücher des 20. Jahrhunderts überhaupt. Die Beziehung zwischen A Huli und Alexander ist aber auch in den Kontext des Märchens vom Rotkäppchen und dem Wolf eingebettet. Und in der Begegnung zwischen den beiden wird schließlich ein altes russisches Motiv variiert: die Wechselbeziehungen zwischen Künstler und Macht.

Für den esoterischen Teil sorgen in Pelewins Roman zum Beispiel die langen Diskussionen über den Mythos des "Überwerwolfs". Unter den Werwesen selbst konkurrieren hierzu unterschiedliche Ansichten. Für die einen ist der Überwerwolf eine Art Messias und Erlöser, der am Ende der Zeit erscheinen wird. Die anderen sehen in ihm vielmehr die höchste Stufe des eigenen Geistes, die jedes Werwesen im Verlauf seines Jahrhunderte dauernden Lebens anstreben und erreichen soll. Auch A Huli macht sich auf die Suche nach dem Überwerwolf. Ihr Erfahrungsbericht wird zum "Heiligen Buch" und dadurch zu einem Handbuch für alle anderen Suchenden. Gerade in dieser Verknüpfung der Darstellung tierischer Fabelwesen mit einer Heilsgeschichte erinnert der Roman auch an die mittelalterliche Tradition der Bestiarien.

Das "Heilige Buch der Werwölfe" erreicht vielleicht die Qualitäten von "Generation P" nicht ganz, aber für Pelewin-Fans und für Tierfreunde ist es gleichwohl ein Muss. (Liebe Werwölfe, Ihr mögt verzeihen, dass ich Euch zu den Tieren zähle. Aber für Euch sind wir Menschen ja auch nur "schwanzlose Affen").


Titelbild

Viktor Pelewin: Das Heilige Buch der Werwölfe. Roman.
Übersetzt aus dem Russischen von Andreas Tretner.
Luchterhand Literaturverlag, München 2006.
349 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-10: 3630872352

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