Der weibliche Akt - Ideal und tödliche Bedrohung
Der französische Kunsthistoriker und Philosoph Georges Didi-Huberman stellt faszinierende Betrachtungen zum Thema "Venus öffnen" an
Von Klaus Hammer
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseBesucher kommen nach Florenz in die Uffizien, um vor allen anderen ein bestimmtes Bild zu bewundern: Botticellis "Geburt der Venus" (um 1484-1486). Wenn man vorher nur Reproduktionen kannte, ist man überrascht, dass das Original fast drei Meter breit und die Venus fast lebensgroß ist. Dass aber dennoch dieses Bild, das zu den berühmtesten in der Welt gehört, so intim und geheimnisvoll wirken kann. Von ihm geht eine verzaubernde, ja "reinigende" Kraft aus. Man wird still und stumm. Das Bild geht auf den alten griechischen Mythos zurück, nach dem Venus (oder Aphrodite) aus dem Schaum des Meeres geboren wurde. Botticelli lässt sie nackt auf einer Muschel stehen, in einer Kaskade von rosa Rosen, von den beiden verschlungenen Gestalten, die die Winde darstellen, sanft auf die Küste geblasen. In dem Augenblick, da sie der Welt der Menschen näher kommt, schämt Venus sich vor den Augen der Leute, vor unseren Augen, wegen ihrer Schönheit und Nacktheit. Und ihre Begleiterin, die mit Girlanden und rosa Rosen geschmückt ist, erwartet die Göttin mit einem Gewand, das sie ihr umwerfen wird, sobald sie das Ufer betritt.
Venus ist hier nicht einfach eine heidnische Liebesgöttin, sie verkörpert viel von dem Begriff der Renaissance, sie glitt in das Leben der Menschen als eine Art Erlöserin. Sie war Humanitas, sie war die Wahrheit und sie war die Offenbarung göttlicher Schönheit. Es scheint sich eher um ein Ideal Botticellis zu handeln als um eine reale Person. Sie taucht in seinen Bildern immer wieder auf, als "Jungfrau mit Kind", als "Madonna mit Granatapfel", schelmisch als Flora in dem Bild "Frühling", streng in dem Bild "Venus und Mars". In der "Geburt der Venus" gelingt es ihr, all diese Eigenschaften zu vereinen, noch schöner zu werden. Hier scheint sie Botticellis Ideal am nächsten zu sein.
Von diesem bewundernswerten Akt Botticellis geht der französische Kunsthistoriker und Philosoph Georges Didi-Huberman in seiner Studie "Venus öffnen" aus. Er stellt fest, dass die Venus bei Botticelli eigentlich zweimal existiert, als die himmlische, die Venus coelestis, und die gemeine, die Venus naturalis. Weil Botticellis "Venus" von den Medici in Auftrag gegeben wurde und weil sie dem Kanon der griechischen Bildhauerei entsprach, wurde sie schnell mit der Venus der Medici assoziiert, dem in Florenz aufbewahrten berühmtesten Werk der Antike. Die Venus ist die nuda veritas der Neuplatoniker des Quattrocento. Dieser entkörperte, theoretische und metaphysische Charakter wird uns von Botticelli selbst in seiner Darstellung der Wahrheit bestätigt, die er als isolierte Protagonistin platziert und in Anlehnung zur legendären "Verleumdung des Apelles" entworfen hat. Die Predigten und das Märtyrertum des Savonarola, der mit seiner Anprangerung des Sittenverfalls der Kurie zu einer Gefahr für den Papst wurde und deshalb als Schismatiker und Häretiker hingerichtet wurde, ließen ihn dann alle Nacktheit des Venus-Bildes verbannen. Die himmlische Venus der Neuplatoniker, das disegno (ital. "Zeichnung"), die im Geiste vorvollzogene sinnliche Leistung des Gestaltfindens, die antiken Texte zur Aphrodite Anadyomene, der klassische Typus der Venus pudica, das humanistische Thema der nuda veritas - all das sei in Botticellis Darstellung der Nacktheit tatsächlich am Werk.
Doch dem makellosen, dem geschlossenen Körper steht seine Negativform, der geöffnete Körper, gegenüber. Der Wunsch, den Körper zu öffnen. Durch jede Vision eines Aktes geistert das Gespenst eines Gehäuteten, sagt Didi-Huberman. Die Frage der Nacktheit hängt von der Dialektik ab zwischen der Harmonie, der Schönheit auf der einen Seite und dem Übergriff aufs Innere oder der Grausamkeit auf der anderen Seite. Die "Himmlische Venus" ist auch per definitionem die aus dem abgetrennten Glied des Himmels geborene Venus: Sie entwickelte sich folglich in einer mythologischen Sphäre, die unvermeidlich eine Sphäre struktureller Grausamkeit ist. Als seine "Geburt der Venus" entstand, malte Botticelli auch das schon genannte Bild "Mars und Venus" (um 1483), das in der Zusammenstellung nackter Körper und martialischer Kriegswerkzeuge zugleich spielerisch, pervers und beunruhigend ist. In der humanistischen Vision der Venus stellen Reinheit und Unreinheit, Harmonie und gewaltsames Zerreißen die zwei Prinzipien einer Fundamentalontologie dar. Die Geburt der Venus ist nur Teil einer ganzen Serie von Zerstückelungen. Sie sollte verstanden werden als eine Art von Schönheit produzierender Katastrophe, meint Didi-Huberman, die ebenso schmerzhaft ist wie die Häutung des Marsyas.
Das Fehlen jeder Christus-Ikonografie im Gemälde Botticellis sei nicht Grund genug, um die Nacktheit der Venus in einer geschlossenen Welt antiker Götter zu isolieren. Zu den Quellen eines Gemäldes müssen auch die Gegen-Quellen gefunden werden. Der Zeitgenosse Botticellis, der den dialektischen Widerspruch, den Konflikt der Zeit, den Standpunkt des Bruches und des Anachronismus darstellte, war der Bußprediger Savonarola. Unter seinem Einfluss wurde die anscheinende Neutralität der schönen Gestalten Botticellis besetzt von einer bedrängenden Nacktheit, die zugleich bedrohlich erscheint. Indem das Wort Savonarolas zu Fleisch wird, demütigt sich das Fleisch - und damit wird die Demütigung zum Wert des Christ-Seins, zur christlichen Tugend schlechthin. Die schuldige Nacktheit wird zu einer aufgeschnittenen Nacktheit, die sowohl der Öffnung des Körpers als auch den Ängsten der Seele ausgeliefert ist. Die Nacktheit eines Akts von Botticelli als "Idealform" der Kunst ist deshalb verbunden mit der tödlichen Beunruhigung, die jede Nacktheit des Fleisches in sich trägt.
So hat Botticelli in seinem Vier-Tafel-Werk "Das Gastmahl des Nastagio degli Onesti" (1483/83) einen "bösen Traum" ins Bild gesetzt, der im "fünften Tag" von Boccaccios "Dekameron" erzählt wird. Nastagio, ein junger Mann in Liebesleid, weil die von ihm geliebte Frau unempfindlich und hart geblieben ist, muß entsetzt mit ansehen, wie ein Ritter mit zwei riesigen Hunden eine nackte junge Frau verfolgt, sie tötet, ihr Herz und Eingeweide herausschneidet und sie den Hunden zum Fraß hinwirft. Nastagio ersinnt nun ein besonders perverses Szenario und organisiert am Ort und zur Stunde der Schreckensvision ein prachtvolles Festmahl, auf der die geliebte junge Frau, als abermals die "höllische Jagd" erscheint, drastisch zur Einwilligung in die Heirat überzeugt wird. Hier ist die aus Traum und Grausamkeit geflochtene Nacktheit als "Schreckmittel" zu verstehen, eine versteinernde Umkehrung der Liebe in tödliche Jagd und der Anziehung in aggressive Abneigung.
Die Nacktheit also als dialektische Triebkraft eines Paradoxes: Je größer die äußere Schönheit ist, desto tiefer greift die Besudelung im Innern, desto zerreißender ist die Möglichkeit einer Öffnung, einer Verwundung. Ist nicht in dieser fliehenden und geopferten Nacktheit von Botticelli schon jener "heilige Schauer" angekündigt, den der französische Schriftsteller und Essayist Georges Bataille später in der "Olympia" von Manet erkennen sollte? Die Anziehungskraft der jungen Frau, die von Botticelli in die Mitte jeder Szene gesetzt wurde, rührt nicht mehr von ihrer Schönheit her, sondern von ihrer geopferten Schönheit, von ihrer der Opferung geweihten Schönheit. Aus der verlockenden Nacktheit ist der "Sog des scharfen Schnittes" geworden: eine psychische Regung der Anziehungskraft, die von der Schönheit des Leibes (Botticelli als "Goldschmied der Venus") zur Opferung der Schönheit reicht (Botticelli als "Schlächter der Venus"). Botticelli wird hier mit Unterstützung von Sigmund Freud, Georges Bataille und des Marquis de Sade völlig neu gedeutet.
Neben Botticelli ist es die eigenartige Darstellungstradition der "Venus der Mediziner", jenen anatomischen Wachsmodellen des 18. Jahrhunderts, an denen Didi-Huberman sein Thema weiter verfolgt. Ein Körper, der, so "venusgleich" er auch erscheinen mag, nichts ist als ein komplexes Behältnis, in dem die Organe ineinander gesteckt sind. Der Aspekt von Montage - Demontage, der dieser anatomischen Statue anhaftet, löse ein topologisches Staunen vor dem Lebendigen aus - über die Fähigkeit des Imaginären, sich selbst zu zerlegen. Es gibt kein Bild des Körpers ohne die Öffnung - vom Auffalten bis zum Zerreißen - seiner eigenen Einbildung. Zwischen dem imaginären Messer, das der "Goldschmied" Botticelli in die lange Wunde seines jungen Opfers gesenkt habe, und dem imaginären Skalpell, mit dem der Anatom Clemente Susini den Oberkörper seiner eigenen "Venere de' medici" zerschneide, herrsche historische Kontinuität.
Der florentinische Humanismus ist also alles andere als rein. Er konnte in der langen Geschichte zwischen dem 14. und 18. Jahrhundert selbst die sozialen, psychischen und ästhetischen Bedingungen für seine eigene Öffnung produzieren. Diese höchst komplexen Vorgänge vermag Didi-Huberman so anschaulich und visuell überzeugend zu vermitteln, dass das Mitdenken und Nachsinnen dem Leser höchste Freude bereitet.
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